2. Der Homo Ludens

 

Das Individuum der Zukunft scheint dazu verurteilt, Kultur zu produzieren - Kultur weder als Vergangenheits- noch als Zukunftssicherung, sondern als Ekstasetechnik einer Dauergegenwart. Derartige Kultur will nicht Sinn, sondern Sinnsurfing. Die ´weite Welt der Tastatur´ erlaubt, das vorhandene Universum in eine Reihe möglicher Welten zu verwandeln, also "Annäherungen an eine Realität zu unternehmen, die zum ersten Mal die Markierungen ´selbstgemacht´ verdient" (Kamper 1991, 99). Es scheint darum zu gehen, die "wiedererkennbaren Dinge so wiederzugeben, daß sie absolut fremd erscheinen" (Agentur Bildet 1993, 31). Alles, was war, steht Kopf und die Geschichte kann beliebig umgeschrieben werden, weil sie immer anders komputiert werden kann. Alles, was möglich ist, ist wahr. Es darf endlich - die Postmoderne noch übertreffend - ohne Netz argumentiert werden. Ohnehin haben Simulakren - für Flusser - ´diesselbe ontologische Würde wie die Welt´ (vgl. 1988, 127), da sie die Sinnesorgane in einer der ´Wirklichkeit´ äquivalenten Qualität überzeugen. - Die Komputation gibt den Startschuß ins Zeitalter des ´Spielens´ (vgl. ders. 1989, 50), in dem der Mensch zum homo ludens wird (vgl. ders. 1992b, 25).

Der ´homo ludens´ spielt auch und vor allem, "um die Spielregeln zu ändern" (Flusser 1990b). Auf der digitalen Spielwiese gilt die Herausforderung, "die Evolution noch einmal rekapitulieren" zu lassen (J. Wiesner in: Brand 1990, 165) und neu zu mischen. Die technischen Möglichkeiten folgen einem neuen "Auftrag: Schaffen Sie ´Leben´", so lautet der Imperativ am Media Lab, "lassen Sie Kinder realistische Lebewesen erfinden und diese anschließend in ganzheitlichen computerisierten Ökosystemen aussetzen - lassen Sie sie etwas über die Schöpfung des Universums lernen, indem sie selbst eins erschaffen" (Brand 1990, 130). [1] Es ist kein Scherz, wenn Flusser auf die Frage, wer der künftige Disney sein wird, antwortet, "er wird, unter anderem, Molekularbiologe sein" (1990b, 206): Das Komputieren wird alle genmanipulierten Tomaten in den Schatten stellen, denn in der Simulation werden weder Tomatenklone noch komputierte Monster (irdischen) Schaden anrichten können. Die Gentechnologie macht, ehe sie geklonte und mutierte Schafe auf die Weide schickt, zunächst im Stillen des Virtuellen Furore, da es das optimale Testfeld ist.

Das anything goes (der Postmoderne) scheint Raum und Zeit historischer Faktizität zu verlassen und sich im Virtuellen zum imperativen anything may go zu transformieren. Bezüglich der Geschichte, die spielerisch ganz neu ´verdaut´ werden kann, gilt ein ´anything may have been gone´, das, gekoppelt ans ´anything may go´, neue Informationsrealitäten aktiviert. Wenn wahr und falsch keine Kriterien mehr sind, dürfen Zitate falsch gesetzt und Gegebenheiten falsch datiert werden. Der ´Denkunfall´ wird geadelt. Weder wissenschaftlich-objektiv noch historisch korrekt setzt die apparatisch ´neue Einbildungskraft´ (vgl. Flusser 1992, 28) an, sondern gemäß des Imperativs der Spielwiese. Komputierte Bilder sind vernetzte Gesamtkunstwerke, an denen der Faktor der Neuigkeit den der Authentizität überwiegt. Im Virtuellen, in dem die Bilder ´spielen´, sind sie ´nicht reproduktiv, sondern produktiv´ (vgl. ders. 1990, 39). Ihr Anspruch ist nicht, Geschichte nachzuzeichnen, sondern Geschichte, die virtuell zum Schauspiel wurde, neu zu dichten: Geschichte zu machen. Geschichte derart umzuschreiben aber hat zur Konsequenz, daß sie anders wird: anders war. Geschichte wird zur Epidemie ihrer möglichen Varianten. [2]

Die Wirklichkeitshacker zerhackstücken in den technischen Wiederaufbereitungsanlagen einerseits die Geschichte, doch bemühen sie sich andererseits, "unsere Erlebnisse abenteuerlich zu erweitern" (Flusser 1992, 29): "´Einbilden´ soll ... jene Fähigkeit bedeuten, aus dem durch Abstraktion in Punktelemente zerfallenen Universum ins Konkrete zurückzuschreiten" (ders. 1990, 32). Es geht darum, "völlig Abstraktes ins konkret Erlebbare zu heben" (1992, 29) - ins virtuell Erlebbare einer ´abenteuerlichen Gesellschaft´ (vgl. ders. 1990, 7). In ihr "entnimmt [der Leser] dem Gelesenen nicht mehr einen Sinn, sondern er ist es, der dem Gelesenen einen Sinn gibt" (ders. 1992, 76), indem er bestimmt, was interessant und damit ´wahr´ ist. Die Leselogik eines Buches wird multimedial übertroffen und durch anklickbare Möglichkeitsfelder ersetzt, die individuell ´gefüllt´ werden können.

Die Komputatoren bemühen sich, auch die selbstreferentielle Rückkoppelung der Apparate zu durchbrechen. Während sich die Bilder von der in die Apparate ´verfütterten´ Geschichte ´nähren´, programmieren die Komputatoren Apparat wie Geschichte um, um sich ihrerseits von ihnen ´nähren´ zu können und weiterhin die Freiheit zu behalten, weiterkomputieren zu können. Die Lebenseinstellung des ´Telenauten´ ist damit umgepolt: "Nichts mehr zeigt auf uns zu. Wir sind es von nun an, die auf die Welt Bedeutungen projizieren. Und die technischen Bilder sind solche Projektionen. Gleichgültig, ob es sich um Fotos, um Filme, um Videos oder um Computerbilder handelt, sie haben die gleiche Bedeutung: dem Absurden einen Sinn zu geben" (vgl. Flusser 1990, 41). "Bedeutung und Wirklichkeit eines Wissens", so auch Lévy, "bemessen sich nicht mehr an der Erhabenheit seines Ursprungs, sondern nur noch daran, welche Prägnanz ihm die Menschen ... verleihen und auf welche Weise sie es verkörpern und in die Praxis umsetzen" (1997, 108). Die Bilder wollen nichts sagen und nichts dokumentieren. Sie sind reine Erscheinung. ´Grübeln´ ist Zeitverschwendung, Komputieren dagegen eine produktive Sinnattacke.

Der mit Lust und Kreativität bildergestaltende Homo Ludens scheint nahe Verwandtschaft zum Künstler zu haben. Künstler schöpfen ebenfalls aus dem Unwahrscheinlichen des Nicht-Existenten Wahrscheinlichkeiten. Und sie transformieren das Informative ebenfalls ins imaginär Fiktive. Kreativität scheint mit der Komputation in den Bereich der Bildschirme einzuziehen. "In der Industriegesellschaft", so bedauert Flusser, "befindet sich das schöpferische Tun in einer Krise" (1991, 79). Mit dem ´Wegerklären´ des Bildes sei auch die Kunst ins Abseits geraten. "Die Kreativität, also das Schaffen neuer Formen, ging viel disziplinierter und schneller auf dem Gebiet der Wissenschaften und Technik vor sich als auf dem der sogenannten Kunst ... Abgeschnitten von der Erkenntnis ... wurde ... die Kunst mit einer benjaminischen Aura versehen und aus dem täglichen Leben in Museen verbannt ... Wenn man das kreative Potential des Menschen betrachten will, ist es besser, ein ganz ordinäres Auto anzuschauen, als die größten Kunstwerke der Neuzeit" (1988, 131).

 Die Krise der Kunst zu überwinden und eine ´Gesellschaft von Künstlern´ entstehen zu lassen (vgl. Flusser 1990, 72), wirbt unter dem Stichwort ´Evolution der Heuristik´ auch Moles für die ´Kreationsmaschine´. Sie sei ´der neue dynamische Mythos´ (vgl. 1973, 47) und lade dazu ein, kreativ die Tasten zu drücken.[3] Welcher Art diese Kunst sein wird, verrät Moles ebenfalls: Der Künstler verwende "seine schöpferische Imagination mehr auf den Reichtum der Variationen als auf die Angleichung an irgendeine Realität, von der sich die moderne Sensibilität immer mehr befreit ... Es gibt keine Kornfelder mehr, keine Äcker und Kanäle, nackte Frauen oder Pferde; es gibt Wahrnehmungselemente, Linien, Geraden und Dreiecke, Farbflecke, Formen, und es gibt eine Ordnung, sie zu kombinieren" (1973, 110). Nicht nur geometrische Formen lassen sich aus den Wahrnehmungselementen formen, es entstehen auch digital geklonte Kornfelder, nackte Frauen und naturidentische Kubismen. Moles zufolge haben ´die Menschen des 2o. Jahrhunderts das analytische Geheimnis zur Beherrschung des Komplexen entdeckt: die Computer schöpfen mühelos die Vielfalt der Kombinationen aus´ (vgl. ebd. 133). Allzu simpel freilich sind diese Neudefinierungen der Kunst: Kombinationszuordnungen müssen mit Komplexität so wenig gemein haben wie Computer-Malprogramme mit Kunst. Moles übersieht, daß Kunst Kombinatorik, und daß Komplexität Struktur übersteigt.[4]

Die Freiheit des Komputierens ist dennoch schier grenzenlos, denn dem künstlerischen Herstellen von Unterschieden dient das gesamte digitalisierte und gespeicherte Wissen. Alles kann gegeneinander ´losgelassen´ werden, womit es sämtliche Gesellschaftssysteme überlagert und beeinflußt: "Jetzt können wir das lenken, wir können fraktale Ineinandergriffe zwischen Kunst und Wissenschaft oder zwischen Kunst und Technik herstellen. Wir können sie komplementär und dialektisch machen und damit spielen. Dabei entsteht nicht nur eine Synthese, sondern eine ganze Reihe von Synthesen, die wir um uns herum erwachen sehen" (Flusser 1988, 130). Die Synthesen freilich laufen nicht über Sinn. Nicht der Ursprung der Informationen ist relevant, sondern das bildliche Ergebnis der Komputation. Wenn Information bislang Unterschiede durch das Herstellen von Unwahrscheinlichkeiten machte, so machen nun Informationen Unterschiede, deren Unterschiede nicht über Sinn laufen, sondern über die strukturelle Anordnung der Informationseinheiten und Wahrnehmungselemente. Nicht nur aber die Kunst, sondern auch jede Information wird dann mit Komputation identisch. Wenn der Unterschied das Kriterium sowohl der Komputation als auch der Negentropie ist, kann jede Information gleichermaßen die Welt verändern.

Die Unterscheidungen zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen Technik und Ästhetik, zwischen ´E´ und ´U´ und zwischen Sinn und Unsinn entfallen durch die digitale Fusion der medialen Darstellungsweisen. Die ´Freiheit´ des Komputierens bewirkt sogar, daß "Kunst und Wissenschaft ... als ´politische Disziplinen´ angesehen werden müssen" (Flusser 1989, 54): Da in den Bildern gehandelt wird und Bilder die bilderkonsumierende Gesellschaft ändern, ist jedes Handeln politisch und jede Politik komputierendes Handeln. Auch der Politik droht das Komputationsspektakel, sobald sie sich im Bild verwirklicht und sich über die Netze artikuliert. Weit mehr als in den herkömmlichen Medien wird Politik den Gesetzen der Neuen Medien unterworfen sein. Da die Reinform der Telematie verspricht, daß jeder Nutzer Komputationsgewalt habe und die Programme präge, die rückwirkend über die Netze die Nutzer prägen, scheint auch das Monopol der Politik zu kippen.[5] Das ´anything may go´ des Komputierens, dem die Gedanken frei sind, macht das Digital zum gigantischen Versuchslabor auch politischer Ideen.

Die schier grenzenlose ´Freiheit´ komputativ entstehender Gedanken´scheint in eine Art geistlose Ursuppe getaucht zu sein, die im Zufallsprinzip das gedankliche ´Leben´ entstehen läßt. In der Tat beschreibt Flusser den Zufall spielenden Komputator als optimalen Spielgefährten. Er sieht ihn auf der Entwicklungsstufe eines schreibenden Affens. An der Scheibmaschine sitzend kann der Affe, ahnungslos, ´frei´ und ´dumm´, wie er ist, beliebigste Komputationen ausführen, indem er beliebig Tasten drückt: Der "Schimpanse ist der ´freieste´ Schreiber" (vgl. 1990, 25). Nachdem also der Zufall in der Industriegesellschaft tabuisiert und möglichst auszuschalten war, wird er im Akt des Komputierens zu einem entscheidenden Parameter der Informationsproduktion. Die Chaostaste wird zum aleatorischen Sinnstifter.

 "Zum Beispiel kann ich ein ´katholisch-freudianisch-marxistisches´ Modell aufstellen und dabei selbstredend auch eigene Informationselemente einbauen ... Statt Kolumbus lasse ich Amerika von Platon entdecken ... ich kann ... alles Gegenwärtige ... in die Zukunft projizieren und so auch diese gegenwärtig machen" (Flusser 1990, 107). Computer sollen "Auschwitz ins 30. Jahrhundert verlegen ... die Kathedrale von Reims mit dem Lincoln Center zusammenmischen ... oder ... die von Jesus verwendeten Gleichnisse in Bilder übersetzen und sie mit Bachschen Kantaten zur Deckung bringen" (ebd. 108).

Wie schwer der Wahrheitsanspruch realweltlicher Gegebenheiten aufrechtzuerhalten ist, illustriert Moles anhand eines Experiments, in dem Computerprogramme neue ´Mondrianbilder´ aufgrund der Eingabe von Mondrianoriginalen kreierten: Ein Testpublikum hatte die ´Remakes´ etwa genauso gut (oder sogar besser) empfunden. Dasselbe widerfuhr Tschaikowsky und Brahms. Wenn nun "die ´Remakes´ etwa genauso gut (oder sogar besser) wären als das Original, so hieße das, daß [Mondrian,] Tschaikowsky oder Brahms bei der Erforschung ihres Möglichkeitsfeldes auf dem vielverzweigten Pfad nicht die beste Richtung gewählt hätten. Als Möglichkeit existierte ein besseres ´Erstes Klavierkonzert´, als das, welches Tschaikowsky tatsächlich niedergeschrieben hat: wir würden einen großen Fehler machen, übersähen wir diese reiche Quelle künstlicher Möglichkeiten" (vgl. Moles 1973, 87f). Derartige Möglichkeiten haben sich von der sogenannten Wirklichkeit und der Geschichte so weit entfernt wie vordem nur Mythos und Magie. Es soll vom Bild des Bildschirms weder auf die sogenannte Realität noch auf Geschichte rückgeprüft werden müssen:[6] Die von Flusser vorgeschlagenen Jesus-Bach-Zwitter sowie die Moles´schen Tschaikowsky-Mutanten machen die Authentizität von Jesus, Bach und Tschaikowsky überflüssig. Hochgerechnet wie Mandelbrots Gleichung, sollen sie einzig immer Neues bringen. Damit aber wird jede Darstellung beliebig und banal, wird Auschwitz zum Disneyland.

Nicht Aufklärung ist das Ziel der Apparatkommunikation, sondern Bildproduktion. Dabei ist "nicht das im technischen Bild Gezeigte [die Botschaft], sondern das technische Bild selbst ist die Botschaft" (Flusser 1990, 44). Weder die Welt noch deren Belange ´deuten´ auf Erklärungen (zwecks Problemlösung), sondern umgekehrt deutet das Virtuelle auf die Welt. Als Bild ist es die Welt. Zwar zwingen die Apparate zu ´sinngebenden, imperativen Botschaften´, doch fällt der Bildinhalt mit dem Bild selbst zusammen. Irdische Probleme sind damit irrelevant, denn Problem ist gleich Bild - wie ja auch Sinn gleich Information ist. Flusser weist darauf hin, es sei "eine Gesellschaftstruktur entstanden, in der sich die Menschen nicht mehr um Probleme, sondern um die technischen Bilder gruppieren ... Nicht mehr Menschen, sondern technische Bilder stehen jetzt im Zentrum, und dementsprechend sind es die Beziehungen zwischen dem technischen Bild und den Menschen, nach denen die Gesellschaft zu klassifizieren ist" (ebd. 45). - Ich kann die Bilder elektronisch versenden und mich darüber unterhalten, wie die Entwürfe gefallen, ob sie beispielsweise schön sind. Was sie zeigen aber ist zweitrangig. Damit zeigt sich umso deutlicher, daß die ´Informationsgesellschaft´ nicht mit Informationsinhalten ´dealt´, sondern mit Bitanhäufungen, die zwar bildhaft sind, deren Sinn und Inhalte aber weder mehr Sinn machen noch zur ´Welt´ zurückführen (müssen).

Erst die elektronischen Bilder gewährleisten universelle Darstellbarkeit. Den Umbruch in seinen breitenwirksamen Dimensionen zu beschreiben, scheinen - computare, computantis - noch die Begriffe zu fehlen, sofern Begriffe - und nicht Bilder - überhaupt fähig sind, zu zeigen. Pixels und Bits lassen sich nur schwer ins Schriftliche übersetzen. Während das Bild zum Vermittlungsorgan zu avancieren scheint, scheint die kommunikative Kompetenz der Schrift umsomehr an Überzeugungskraft zu verlieren. Da die Apparate so viel mehr zeigen als Wort und Schrift, ringt die Sprache vergebens nach Worten. - Beim schriftlich aufgeklärten Zeitgenossen freilich dürfte die Behauptung Flussers, "mit den neuen Computercodes sind wir wieder illiterat geworden" (1992, 51), Panik hervorrufen.

Alles andere als beunruhigt sieht Flusser der Verdrängung der Schrift entgegen: "Die neuen Schriftstücke (die Computerprogramme) sind für die meisten von uns in jenes Geheimnis gebadet, welches alphabetische Schriften vor der Erfindung des Buchdrucks umhüllte" (1992, 51f). War einst "das geschichtliche Bewußtsein gegen das magische gerichtet", indem ´die zirkuläre Zeit der Magie in die lineare der Geschichte umcodiert wurde´ (vgl. 1992b, 10), so "wurden die technischen Bilder erfunden: um die Texte wieder vorstellbar zu machen, sie magisch aufzuladen - um die Krise der Geschichte zu überwinden" (ebd. 12). Die Geschichte hatte ihren Höhepunkt in der Aufklärung gefunden, die die Welt zu erklären versuchte, über das Erklären aber nicht hinauskam. Das technische Bild nun überwinde sowohl Buchstaben als auch Vernunft und übernehme nachgeschichtlich die vor-alphabetische Funktion der magischen Bilder, wodurch "das westliche, historische, typisierende Denken ... archaisch" wird (vgl. Flusser 1992, 50).

Das Denken also fällt zurück in die unbeschreibbare, dafür unmittelbar erlebbareMystik des reinen Bildes. Sinn wird weder mehr ´grübelnd´ oder poetisch vertieft, noch wissenschaftlich ge-funden, sondern wieder er-funden: "Die linearen Texte haben im Dasein des Menschen nur eine vorübergehende Rolle gespielt, die ´Geschichte´ war nur ein Zwischenspiel, und wir", so Flusser, "sind gegenwärtig dabei, in die ´normale´ Lebensform zurückzukehren ... ins Imaginäre, Magische und Mystische" (1990, 9) - in eine Metaphysik der Steckdose.

 



[1]´Künstliche Welten´ entstehen am Media Lab auf unterschiedliche Weise. In ´Künstlicher Ökologie´ entwickelt man "intelligente und autonome Charaktere". Man schickt zum Beispiel Bugs Bunny und King Kong in den Wald, und ´sie spielen einen Cartoon, der sich aus ihren Persönlichkeiten ergibt´ (vgl. Brand 1990, 130) - Persönlichkeiten, die beliebig festgelegt werden können, die sich aber auch selbst entwickeln. Eichhörnchen werden simuliert, "die sich erinnern, wo sie ihre Nüsse verscharrt haben" (vgl. ebd. 132) oder ein "Zeichentrickfisch ... der einen anderen vollkommen selbstständig verfolgte, auffraß und sich anschließend mit einem zufriedenen Grinsen in seine Höhle zurückzog" (130).

[2]Das auf die Vergangenheit gerichtete ´anything may go´ läßt dann sogar den Zweifel zu, daß die Gattung Mensch (homo) von einer einzigen Art (homo sapiens) vertreten ist. Flusser & Louis Bec ´entdeckten´ bei einem derartigen Unternehmen ein der Entwicklungsstufe des Menschen ebenbürtiges Tiefseewesen, den ´Vampyroteuthis infernalis´ (vgl. Flusser & Bec 1987). Mit dieser Umformung der Evolution zeigen sie nicht nur die Möglichkeit, daß alles anders hätte kommen können, sie zeigen auch, daß Wahrheit und Realität so zufällige Erscheinungsformen sind wie die Geschichte und daß selbst die ´Vampyroteuthis-Realität´ einiges über den Homo Sapiens zu sagen vermag.

[3]"Der Einfluß des Computers auf die Künste", so auch die Zuversicht am Media Lab, "wird den Künstler in uns allen zum Vorschein bringen ... Wir werden ein Comeback des Sonntagsmalers erleben" (Negroponte in: Brand 1990, 116). - Weibel kritisiert an der ´herkömmlichen´ Kunst, ihre Funktion "war der Versuch, die Illusion des Bürgertums auf ewig zu verlängern" (1989b, 63) und das ´Original´ hält er für "die metaphysische Verkleidungen des bürgerlichen Besitzdenkens" (ebd. 61). ´Original´ nun wird in der mit Computern Bilder produzierenden und reproduzierenden Gesellschaft ein historischer Begriff sein: Kunst ist schlichtweg alles, was dem entropischen Zustand entgegenwirkt: "Es ist der modernen Kunst gelungen, das Sujet zu zerstören, das Überbleibsel einer scheinheilig semantischen Epoche" (Moles 1973 ,110). ¶

[4]Lev Manovich weist darauf hin, daß ´die gesamte klassische und um so mehr die moderne Kunst bereits ´interaktiv´ [war], da sie einen Zusschauer voraussetzte, der fehlende Informationen ergänzte und seine Augen oder seinen ganzen Körper bewegen mußte´: "Die Interaktive Computerkunst versteht ´Interaktion´ wörtlich, indem sie diese auf Kosten der psychischen Interaktion mit einer rein physikalischen Interaktion zwischen einem Benutzer und einem Kunstwerk (das Drücken eines Knopfes) gleichsetzt" (vgl. 1997, 125f).

[5]Blickt man freilich ins Internet, das reichlich mit Blödsinn vollgestopft ist, so sind im politischen Kommunikationsdigital nicht minder niveaulose Komputationen zu erwarten. Doch wird man so selbstverständlich damit leben und umgehen müssen, wie man heute mit der nicht nur niveauvollen Presselandschaft umzugehen weiß.

[6] Die Lebensbedingungen sind damit reichlich neu. Das alte, entropisch gewordene ´Territorium mit Wahrhaftigkeitsanspruch´ wird von Neuem abgelöst. Sprach Günther Anders von unserem Ehrgeiz, die Natur zu vergewaltigen, so wiederfährt nun . der ´alten Dame Geschichte´ dasselbe: Wir seien "von einem geradezu sportlichen Ehrgeiz befeuert, die Natur zu überlisten: von dem Ehrgeiz, es ihr zu ´zeigen´, ihr nachzuweisen, daß ihr ihre metaphysische Herumfaulenzerei letztendlich doch nichts nutze" (Anders 1985, 185).

 

 

 

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