1. Digitale Demokratie

 

Jeder ist mit jedem verbunden, jeder kann mit jedem kommunizieren. Jeder Nutzer wird zum ´Knotenpunkt in einem Netz von dialogisch strömenden Informationen´ (vgl. Flusser 1990, 78). Der Nutzer durchlebt dabei dieselbe Metamorphose wie die Information, die sich ortlos überall gleichzeitig im Netz verteilt: er hat nirgendwo konkret anwesend zu sein. "Die emportauchende Gesellschaft ... wird sich an keinem Ort und in keiner Zeit mehr befinden, sondern in eingebildeten Flächen" (ebd. 8), sie ereignet sich nicht mehr in der sogenannten äußeren Welt, sondern in Bildverschaltungen und Textverweisen. "Was das ´Ich´ genannt wird, und was früher ´Geist´ und ´Seele´ genannt wurde, wird jetzt als Abstraktion von konkreten Beziehungen erkannt" (Flusser 1990b, 158f).[1] Sie verteilen sich über den Erdball und führen in die Fundgruben der kollektiven Chatgremien und simulatorischen Denklaboratorien. Die in der Lebenswelt entfremdete Kommunikation wird in der globalen Interaktion künstlich beatmet.

 Der ´vernetzende Schaltplan mit reversiblen Kabeln´ fordert geradezu auf zum Dialog. Im Gegensatz zur einseitigen Medienvermittlung erhalten die Individuen nun ´das Recht, nein zu sagen´ - sowohl in Form einer entweder/oder-Option, als auch inhaltlich und ausführlich (vgl. Flusser 1990c, 213). Dieser negentropische Drang läßt den so passiven, an Entropie ´erkrankten´ Rezipienten mutieren. Der heutige, sogenannte ´mündige Bürger´, der in der einweggerichteten Medienvermittlung nur Wähler und Rezipient ist, hat nun die Chance, als mündiger Nutzer aktiv und individuell die gesellschaftliche Kommunikation zu prägen. 

Wenn das Schaffen neuer Informationen eine der wesentlichsten gesellschaftlichen Herausforderungen ist, wenn die Mailbox zum zentralen Ort des gesellschaftlichen Austauschs wird, dann bedeutet Freiheit, Nutzer sein zu dürfen - und sich das Equipement dazu leisten zu können. Als Nutzer habe ich die Freiheit des Komputierens. Ich kann mit den gespeicherten, bibliothekaren Fraktalen jonglieren und sie anderen im Digital zur Disposition stellen. Veränderungen aber werden nur Sinn machen, wenn sie an irgendeiner Stelle im Netz kommunikativ angenommen werden, wenn jemand im Netz (oder eine ´künstliche Instanz´ des Netzes) ´bravo´ ruft. Derartig dialogischer Austausch bewirkt einen endlosen, kollektiven Wandlungs- und Wachstumsprozeß von Wissen und Information: Auch Kommunikation ist dann mit Freiheit gleichzustellen. Flusser begrüßt eine derartige Gesellschaft als "die erste selbstbewußte und daher freie Gesellschaft" (1990, 78).  

Die Schattenseite seiner Freiheit jedoch ist, daß der Nutzer als Netzknoten, als Input- und Outputstation und angeschlossen durch seinen Terminal für das Ganze mitverantwortlich ist. So winzig er als Netzsynapse auch sein mag, er hat - wie die Neuronen im Gehirn - als Teil des Kommunikationsnetzes für optimale Verhältnisse zu sorgen. Er hat die verantwortungsvolle Aufgabe, gemeinsam mit allen Nutzern dialogisch Meinungen zu bündeln, Bilder zu produzieren und kybernetisch Entscheidungen zu treffen: mehrheitlich, also basisdemokratisch. Das ´intelligente Kollektiv´, so Lévy, gleiche einer ´Aktiengesellschaft, in die jeder Aktionär als Kapital sein Wissen einbringt´ (vgl. 1997, 114). Jede Person würde zum ´Botschafter ihrer Ideen´ (vgl. ebd. 167). - Auch Ulrich Beck propagiert eine vergleichbare ´Selbstorganisation des Politischen´ (vgl. 1993, 156). Er fordert, eine ´Politik der Gesellschaft anstelle der bislang einseitig gerichteten Politiker-Politik´ (vgl. ebd. 17): Die ´Renaissance des Politischen´ liege in der Bedingung, daß die ´Individuen in die Gesellschaft zurückkehren´ können (vgl. 155).[2] - Beck freilich erwartet die ´Handlungsgesellschaft´ (vgl. 162) nicht im Virtuellen des Digitals, sondern im Lebensweltlichen selbst.

Die dialogischen Verschaltungen können in der Tat die Grundlage einer ´Politik mit Modem´ sein. Auch auf die Gefahr hin, daß die Diskursrunden Entscheidungen entropisch in die digitale Endlosschleife hineindiskutieren, haben vernetzte Interessengemeinschaften die Möglichkeit, zentral gesteuerte Entscheidungen direkt und in Echtzeit zu beeinflussern. Die Parteienpolitik freilich steht dem vernetzten Basisaktionismus nicht nur begeistert gegenüber. Der ´informatorischen Revolution´ aber wird sich die Parteipolitik kaum verschließen können - zumal das Weltgeschehen komplexer, instabiler und flexibler ist als die künstlich aufrechterhaltenen Stabilitäten gesellschaftlicher Institutionen. - So ist es eine primitive, aber wirkungsvolle Vorform aktiver Telebürger, die Kommunikationssysteme von Institutionen mit Informationsbombardements zu blockieren.

Flusser sieht die digitale Demokratie bereits durch die strukturelle Vernetzung auf dem Vormarsch: "Die eine [Tendenz] weist hin auf die Zentralisation. Es scheinen sich die Dinge immer mehr bündeln zu wollen, und an diesen Bündeln scheinen sich die Entscheidungszentren ausbilden zu wollen. Aber es gibt eine entgegengesetzte Tendenz, die jünger ist und stärker wird, eine dezentralisierende Tendenz zu einer dialogischen Schaltung, die zu einem Zersplittern der Entscheidungszentren zu Entscheidungsaktomen führt. Das läßt nicht nur die Macht, sondern überhaupt den Begriff des Staates zerfallen ... Sollte sich diese telematische Tendenz bestätigen, dann hätte man nicht mit einem totalitären Programmieren zu rechnen, sondern, im Gegenteil, mit einem in ein Mosaik zerfallendes Dezisionsnetz" (Flusser 1988, 133).

 Anders gesagt: "Mit Netzwerk ist etwas gedacht, was eben prinzipiell mit Machtansprüchen zwar noch zu tun haben kann, was aber jeden Machtanspruch auf Null zurückführt" (Baecker in: Pool Processing 1990, 128). Regierungen, die bislang um die Macht kämpften, würden, so Lévy, ´zu Wächtern, Garanten, Verwaltern und Ausführenden der kollektiv hergestellten Intelligenz´ (vgl. 1997, 84). Lévy sieht in der ´Nano-Politik´ einer Organisation zur Selbstorganisation eine ´Aufwertung des Sozialen´ (vgl. ebd. 65). Im Pool der Basis hat die Politik zu Entscheidungen anzuregen, denn die Basis wird der Echtzeit-Taktstock des Tuns. "In der Heterarchie ... hat man es mit einem Netzwerk wesentlich höherer Ordnung zu tun" (Baecker 1990, 20) als in der Hierarchie, da Sender und Empfänger gemeinsam entscheiden. Vorbild der Heterarchie ist auch hier das Gehirn, das seine Kompetenzen an viele Instanzen gleichzeitig delegiert.

 Flusser freilich ist nicht so naiv, zu übersehen, daß die heutigen Rezipienten allzu verantwortungsbewußt gar nicht handeln wollen: "Die Leute wollen von den Bildern zerstreut werden, um sich nicht, wie dies bei einem tatsächlichen Dialog der Fall ist, sammeln und versammeln zu müssen. Sie sind froh, dies nicht mehr tun zu müssen ... Die Leute wollen sich zerstreuen, um bewußtlos, glücklich zu werden" (1990, 56f) - im Kitsch feiern sie Niedrigkomplexität. Demgegenüber handeln verantwortungsvolle Nutzer nicht nur politisch, sondern in ´Bilddialogen´ über dicht geraffte Bild- und Hypertexte gewissermaßen transpolitisch. Sie fordern auf zur Reaktion. Die Bilder zeigen negativ entropisch Neues in neuen Zusammenhängen und sollen kommunikativ immer weiterentwickelt werden. Der Nutzer schöpft aus dem ´kosmischen Gedächtnis´, collagiert und gibt das Ergebnis den elektronischen Netzen preis, um Antworten unter den weltweit arbeitenden Netznutzern zu provozieren.

Nicht nur Ideen, politisches Engagement, Kunst und Chat bereichern die kollektive Intelligenz, auch Komputationen auf der Programmebene sind diskursentscheidend. Änderungen der algorithmischen Regeln sind sogar negentropische Höhepunkte der Netzdialoge. Sie bewirken - wie Gesetzesänderungen - neue Darstellungsformen und neue Diskussionsgrundlagen: Die Vorreiter eines ´computerisierten Lebens´ - Flusser nennt sie "die gegenwärtigen Revolutionäre, jene, welche dialogische Fäden quer durch die einschläfernden Diskurse spinnen wollen ... sind Störenfriede. Sie wollen das dämmernde Bewußtsein wecken ... Sie manipulieren die Bilder, damit den Leuten zu dämmern beginnt ... daß sie sie für Dialoge, für Informationsaustausch und für die Erzeugung neuer Informationen verwenden können ... Was ihrer Einbildungskraft vorschwebt, ist eine Gesellschaft, in der die Menschen miteinander durch Bilder hindurch dialogisieren ... das heißt: nicht den Unterbau der sogenannten ´Informationsgesellschaft´, sondern ihre Oberfläche wollen sie verändern" (1990, 57f). Die Bilder der Bildschirme, die in ihrer Taktilität die ´verdaute´ Welt bedeuten und neu ordnen, werden programmierend gestaltete Politik. [3]

Bislang ´programmierte´ die Politik die Mediennutzer, nun programmieren die Nutzer die Medien - und damit sich selbst. ´Nicht programmiert entscheiden, sondern programmierend entscheidenß´ (Flusser 1990, 130) ist die telematische Devise der politischen Neuorientierung. Im Gegensatz zur Einwegschaltung führe sie ins "dialogische Leben" (Flusser ebd.). ´Macht´, so betont Flusser, wird das Netz nicht mehr benötigen, denn das dialogische, kybernetische Gespräch ist selbst die Instanz der Entscheidung - je mehr Benutzer des Netzes ´bravo´ oder ´nein´ rufen, desto klarer kristallisiert sie sich. ´Echte Demokraten´ synthetisieren also "eine direkte Demokratie ohne gewählte Vertreter und mit einem sich kybernetisch herstellenden Konsensus" (vgl. 1988, 133). - Zum erstenmal seit dem Beginn der Neuzeit sei Demokratie wieder möglich (vgl. ders. 1990c, 213).

Das demokratische Programmieren und die Vision der in die Netze einziehenden kollektiven Intelligenz vergleicht Flusser mit Kammermusik: Er versteht sie "nicht so, wie wir sie in Konzertsälen erleben, sondern wie sie jene erleben, die zusammengekommen sind, um Musik zu treiben ... um anhand von Partituren zu improvisieren. Und daß während des Spiels ein Tonband läuft, anhand dessen künftige Kammermusiker improvisieren werden ... Es gibt bei der Kammermusik keinen Dirigenten, keine Regierung. Wer den Takt angibt, ist jener, der gerade vorübergehend das Wort führt. Trotzdem ist aber gerade bei der Kammermusik die Exaktheit der Regelbefolgung entscheidend. Sie ist kybernetisch ... Jeder spielt für sich selbst, und gerade deshalb mit allen anderen" (1990, 135f). Diese gigantische Informationssinfonie spielt im ewigen und beliebig überspielbaren ´Gedächtnis´ des Netzes. - Auch Lévy sieht das Vorbild der ´Echtzeit-Demokratie´ in einem ´improvisierenden, vielstimmigen Chor´ (vgl. 1997, 78). Politik also gerät zum gesamtgesellschaftlichen ´Happening´, das Künstler, Wissenschaftler wie jeder andere auch mitgestalten können - ´intersubjektiv´ kann jeder ´Affe´ Politik machen. Auch ´künstliche Gedächtnisse´ seien "aktiv am Dialog beteiligt" (vgl. Flusser 1990, 136).

Einseitig gerichtete, ´programmierte Demokratie gegen demokratisches Programmieren´ einzulösen (vgl. Flusser 1990, 66) wird auch die Funktion der Information verändern. Die Stellung der Information wird umgekehrt, wenn "nicht mehr durchgelassen wird, was informativ ist, sondern informativ ist, was durchgelassen wurde" (ebd. 103), weil es mehrheitlich entschieden wurde. Daß auch heute, zum Beispiel in Zeitungen, ´informativ ist, was durchgelassen wird´, beruht zwar auf Selektion, ist aber im Vergleich zur telematischen Version zentral gesteuert und einseitig an die Rezipienten gerichtet. Demgegenüber nimmt der Nutzer in der telematischen Reinform einerseits die Auswahl selbst vor, andererseits gibt er Entscheidungen zielgerichtet weiter. Er kann mit anderen Netznutzern gemeinsam Relevanzen festlegen.

Das Gemeinsame freilich wird zur Fessel der Freiheit, wenn es zur notwendigen Schnittstelle der Entscheidung wird. Denn nun ist informativ, was mehrheitlich selektiert wird. Entscheidung aber droht dadurch an Einschaltquoten delegiert zu werden. Deren meßbarer Konsens bestimmt über die Richtigkeit und Wichtigkeit der Entscheidung. Der Konsens ist die bittere Notwendigkeit des basisdemokratischen Dialogs.

Wenn es aber keine Instanz gibt, die Relevanzen setzt, wenn sowohl niemand als auch jeder Entscheidungen mitträgt, erfolgt die Programmierung zwar kollektiv-demokratisch und kybernetisch, hinderlich am ´sinfonischen Dialog´ aber ist, daß der Komputations-Ticker droht, unentwegt weiter zu laufen und als Endlossinfonie kaum je zum Stillstand zu kommen. Entscheidung würde dann zum Prozeß, der, dem demokratischen Druck gehorchend, auf seinen Konsens ewig wartet. Informationen sind zudem nie konkret, da sie in der Komputation immer anders sein könnten, immer anders sein werden: Es würde dann "Reproduktion zum Dauerproblem" (vgl. Luhmann 1988, 79) und die Entropie würde zur Falle eines endlos auszudiskutierenden Konsens. Noch ehe Entscheidungen fixierbar sind, wäre der Teufelskreis des kybernetischen Selbstlaufs zu durchbrechen. Die kybernetisch fließende Maßeinheit, die in Bitform dem Selbstlauf der Apparate als Nahrung dient, hätte auf einen menschlich-komplexen Eingriff von außen zu warten.    

Alles kann thematisiert und alles kann politisch bedeutsam werden. Die Strukturalität von Lagerung und Dialog aber droht nicht nur den Inhalt einer dialogisierten Information zu entwerten, schon der Demokratieeffekt wirkt neutralisierend: ´Großartige´ Informationen (Kritik oder Weltbewegendes) werden gleichwertig mit Banalem (Kitsch) gehandhabt - sofern die Nutzer nicht den Konsens finden, das Wertvolle vom Banalen zu trennen. Wenn alles gleichermaßen dialogisiert werden kann und keine Instanz im Netz, sondern eine imaginäre Massenintelligenz befugt ist, zu entscheiden, werden alle Entscheidungen ununterscheidbar und sind akut von Entropie bedroht: "Wenn alles politisch ist, ist nichts mehr politisch" (Baudrillard 1992, 16). Baudrillard zufolge wird dann ´jede Kategorie zu ihrem höchsten Verallgemeinerungsgrad gebracht und verliert so mit einem Mal jede Besonderheit und geht in allen anderen auf´ (ebd.).[4] Der digitale Demokratismus gerät dann in die Strukturfalle der Vernetzungsbedingungen.

Auch der Netznutzer droht durch die Strukturbedingungen und den Konsenszwang verallgemeinert zu werden: "Zwar beschwören die neuen Medien in ihren Verlautbarungen immer noch Individuen, ihrer Struktur nach aber wenden sie sich an den Typus" (Bolz 1990, 85). Demzufolge hat der Nutzer auch als Typus zu antworten. Dabei aber werden Individualität und Orginalität, gebrochen über die Meßbarkeit der Bildschirmerfassung, zurechtgestutzt und - zumal im Konsenszwang - außer Kraft gesetzt. Wenn zudem Dialoge mit konsensfähigen künstlichen Scheinintelligenzen beziehungsweise mit simulierten Prototypen des ´gedoubelten´ Nutzers geführt werden, wird der Nutzer zum Statisten seiner eigenen Entscheidungsraster. Über die Typisierung wird die Einschaltquote zum Universalcode der Digitalentscheidungen. Sie ersetzt den Konsens, den sie vorgibt zu messen.

Während also Flusser befürchtet, angesichts des heute herrschenden medialen ´Geplappers´ werde es ´bald nichts mehr geben, worüber wir miteinander sprechen könnten´ (vgl. 1990, 73) und als Gegengift dieser ´Massenkultur auf dem Niveau der Kinderstube´ (vgl. ebd. 57) in den Neuen Technologien die Gebärmutter einer neuen Gegenöffentlichkeit sieht, scheint mit dem Konsensdruck und der Implosion des Individuellen der Kern der Dialogfähigkeit auszufallen. Abhängig von den technologischen Anschlußzwängen und der Strukturlogik der Netze wird die Freiheit, Nutzer sein zu dürfen, zum Zwang für den, der etwas zu sagen hat: ´Sinnpamphlete´ werden auch im Digital nicht nur von Werbung überklebt werden und in den Info-fluten untergehen, sie werden vor allem vom Konsens überrollt.

So dürfte es wohl auch in Zukunft naheliegender und energiesparender sein, die Tasten des PCs konsensgestreu zu drücken und Dialoge wie bisher - nun unter interaktiver ´Betreuung´ - abspulen zu lassen, als die Digitalwelt mit (politischem) Eigenengagement herauszufordern. Das Zappen durch Programme findet dann nur seine multimediale Steigerung. Mit den Datenautobahnen, so vermutet Robert Adrian, werde wohl ´alles beim alten bleiben - nur um vieles verbessert´ (vgl. 1990, 347). Trotz Internet und den seit Jahren prognostizierten revolutionären Umbrüchen laufen die sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und informatorischen Systeme - zwar um ein Vielfaches beschleunigt - weiter wie bisher. Die interaktive Schaltung scheint nur eine nicht minder absurde Steigerung der bislang analogen und einseitig gerichteten Schaltung zu sein. - Die demokratieseligen Digitalutopisten träumen die Radiotheorie Brechts nur zeitgemäß im Spiegel des Bildschirms.[5]

 



[1]Durch die ´Netzmaschine´ kann ich mit der ganzen Welt kommunizieren (sofern sie im Netz ist), und mit den Gesprächspartnern soll es sich so verhalten, "als ob man in die Kneipe an der Ecke geht, komplett mit all den guten alten Bekannten und netten Neuankömmlingen ... Nur muß ich hier nicht mal meinen Mantel anziehen oder womöglich den Computer ausschalten und zur Ecke runtergehen. Ich werfe einfach mein Telecom-Programm an - und schon sind sie da. Es ist ein Ort" (Brand 1990, 47) - ein ortloser, virtueller Ort. Die Ortlosigkeit der Informationen korrespondiert mit der Ortlosigkeit des Benutzers.

[2] "Die Großparteien mußten den Konsens nicht schaffen, sie konnten ihn abrufen" (Beck 1993, 220). Dies scheint, wie die ´Politikverdrossenheit´ zeigt, nicht mehr zu funktionieren. Individuen und Gruppierungen wollen ´mitmischen´. Es würden im Zuge der fraktalen Unübersichtlichkeit "alle Definitionsleistungen den Individuen selbst zugemutet und auferlegt" (ebd. 39), "die Normalbiographie wird zur Wahl-, zur Bastelbiographie" (ebd. 152). Derartige Synthesen scheinen sich nun auch auf höchster politischer Ebene bündeln zu wollen. Mit Beck ist eine ´Bruchstelle´ markiert: "In einer sich selbst identifizierenden Risikogesellschaft wird Kritik gleichsam demokratisiert; d.h., es kommt zur wechselseitigen Kritik gesellschaftlicher Teilrationalitäten und Gruppen aneinander. An die Stelle einer kritischen Theorie der Gesellschaft tritt ... eine Theorie gesellschaftlicher Selbstkritik" (54). Stabile Interessengruppen werden dabei "abgelöst durch eine themenzentrierte, an der massenmedialen Öffentlichkeit orientierte, vagabundierende Konfliktbereitschaft. Die Fragestellungen funktionaler Differenzierung werden ersetzt durch die Fragestellungen funktionaler Koordination, Vernetzung, Abstimmung, Synthese etc." (78). Flusser sieht bereits den Wandel heutiger "Politiker ... zu Dinosauriern. Man wird sie ausstopfen und sodann in Museen bewundern können" (1990b, 196).

[3]Wohlgemerkt: ´Störenfriede´ haben nicht in (entropischen) Talk-Shows mitzumischen, die Bewährungsprobe des ´Handelns´ liegt vielmehr darin, dialogisch die Regeln der Shows, die Bildauflösung oder die bildliche und textliche Zusammensetzung der Übertragungen zu ändern. 

[4]Baudrillard sieht das Hindernis der Digitalkommunikation darin, daß ´der Computer keinen anderen hat´ (vgl. 1992, 145). In der Interaktion sei ´das Subjekt der andere von niemendem, selbst wenn es für alle möglichen Kombinationen, für alle Verbindungen tauglich ist´ (vgl. ebd. 144): "Der Andere, der Gesprächspartner, ist ... nie wirklich gemeint. Gemeint ist der Bildschirm selbst", wodurch die ´Andersheit von der Maschine konfisziert´ werde (vgl. 63). Jeder Unterschied, das ´Andere´ und alles Individuelle verkümmert dann zu selbstidentischer Ununterscheidbarkeit.

[5]Kommunikativen Austausch erwartete schon Brecht bezüglich des Radios (vgl. 1967, 129f). Und Robert Jungk sah in den achtziger Jahren das Video als Medium gesellschaftlichen Austauschs: Unter dem Motto ´Publikum macht Programm´ erhoffte er die Möglichkeit eines ´elektronischen Marktplatzes´ (vgl. 1978, 42): "Auch ´Empfänger´ dürfen jetzt endlich ´senden´ und es wird sich zeigen, daß sie erstaunlich viel zu sagen haben" (ebd. 41). Jungk sah die "Videobewegung als unübersehbare Chance, Demokratie von unten her wiederzubeleben und resignierenden oder politisch gleichgültig gewordenen Menschen die Chance echter Teilnahme am Gemeinwesen zu eröffnen" (42). - Weder aber das Radio noch das Video konnte die Erwartungen erfüllen: Das Schicksal der ´digitalen Demokratie´ werden, wie bei ihren Vorgängern auch, die politischen und ökonomischen Rahmenbedinungen und das ´revolutionäre´ Engagement der Nutzer entscheiden.

 

 

 

weiter mit: 2. Der kollektive Individualist