2. Mutabor!

 

Verständlicherweise sträubt sich das Denken, aperspektivische ´Störungen´ zuzulassen - zu sehr ist es der traditionellen Wahrnehmung verhaftet. Noch dominieren die ´großen Erzählungen´, die, übersichtlich verpackt und in der Logik des Sag- und Sichtbaren, des Ertragbaren, den Betrachter wahrnehmungstaktisch unterfordern. Der Zuschauer kann die Gemächlichkeit eines Fernsehabends bis Sendeschluß überstehen, ohne physisch Schaden zu nehmen. Selbst Krimis fordern nicht zur Mitarbeit auf, denn der Täter wird ohnehin überführt werden: Fernsehen hat mit Wahrnehmung nichts zu tun. Moles bedauert, daß ´unsere Bildung keine Erziehung zur Kombinatorik, zu ihren Reichtümern und Zufällen umfaßt´ (vgl. 1973, 131). Obgleich für komplexe Vieldimensionalität mehr als Kombinatorik vonnöten ist, gilt: "Trifft er [der Mensch] auf ein Labyrinth, so will er wieder herauskommen, selbst wenn die (permutationellen) Ereignisse, die sich in den Windungen des Labyrinths ergeben, zu sinnlichen Erlebnissen werden können" (ebd.). Vom Menschen als ein entwicklungsfähiges Wesen ausgehend fragt deshalb Kamper, "warum sollten die Menschen nicht, wenn sie nun schon viele Erfahrungen mit den Bildern machen, auch daraus lernen" (1993b, 80)?

 Doch in der Tat nehmen wir längst auf eine weit labyrinthisch komplexere Weise wahr als vorangegangene Generationen. Ob Channelhopping, Netsurfing oder Clipconsuming, die ´Prothesen´ werden durchaus aktiv genutzt und der Nutzer befreit sich nach und nach von der passiven Rolle des Wahrnehmungsopfers. Er begreift, daß er bezüglich seiner Wahrnehmung selbstverantwortlich ist. Schon die Fernbedienung führt zur Erweiterung des Blicks: Zappen ist einerseits die Notbremse gegen die Informationsflut, andererseit bewirkt es eine Steigerung des wahrnehmungstaktischen Umgangs mit dem Wahrgenommenen. Als Waffe wider die Trägheit und die Logik der Spielfilmerzählungen und Programmstrukturen kreiert es Video selfmade und forciert ein Denken zwischen den Bildern und Filmen. Die heranwachsende Wahrnehmungspraxis ist die des musikalisch schnellen Hip Hop des Blicks.

Dem Stakkato der Bilder und Fraktale folgend wird weder rationallastig gedacht noch Wissen erweitert. Das springende Bewußtsein durchsteift die Realität vielmehr nomadisch und intensiv, es nutzt die Aperspektivität als Folie einer aktiven, komplexen Egozentrik - "das völlig aufgeklärte Bewußtsein hat es nicht mehr nötig, ´intelligent´ zu sein" (Flusser 1992, 77). Stattdessen ist es bereit, sich sinnlich ´vom Wirklichen anstrengen zu lassen´ (vgl. Sloterdijk 1989, 195), vom ´Wirklichen´ in den Zwischenbereichen des Jenseits der Bilder. Multimedia fordert, ´sich in die Aufwallung der extremsten Anstrengung hineinzudenken, um deren Grenzen zu ermitteln: Was dem Subjekt keine äußere Kritik sagen kann, erfährt es von den Symptomen der eigenen Überanstrengung´ (vgl. ebd. 196f). Erst eine gewisse Multi-Mühsal führt im Umgang mit den rasant aufflackernden Bildern zu Gelassenheit und Souveränität.

Dem auf Logik und Sinn gestützten Bewußtsein folgt ein ´spielerisches Bewußtsein´ (vgl. Flusser 1992, 77), ein Bewußtsein, das seitens der Jugendlichen in ihrem Bedürfnis nach Reizanstrengung bereits versiert praktiziert wird. Der sich überlagernde, flexible Umgang mit Ungleichzeitigkeiten ist ihnen selbstverständliche Orientierungstaktik: "Mediensozialisierte Jugendliche entwickeln im Umgang mit Medienangeboten eine Alternative zum herkömmlichen Rezeptionsverhalten", so Siegfrid J. Schmidt (1993, 316). Dagegen sind "printsozialisierte Jugendliche ... darauf trainiert, alles als Zeichen zu sehen. Für alles gibt es irgendeinen Referenten. In allen Medienangeboten wollen sie eine Art von Kohärenz entdecken. Das versagt natürlich beim Musikvideo, bei Computersimulationen oder bei Computerspielen völlig. Mediensozialisierte Jugendliche ordnen dagegen jedem Medium eine eigene, relativ geschlossene Wirklichkeit zu. Es gibt eine Fernsehwirklichkeit, eine Hörfunkwirklichkeit, eine Computerwirklichkeit usw. Diese Wirklichkeiten werden offenbar im Denken dieser Kids nicht mehr notwendigerweise miteinander verbunden. Es hat sie auch nicht gestört, wenn diesselbe Information in unterschiedlichen Medien ganz unterschiedlich dargestellt worden ist. Das wurde nicht als kognitiver Konflikt empfunden" (ebd.). Die kids können den pluralen Raumschichten folgen, Information, Meinung und Perspektive darf sich überlagern und widersprechen.

Während das Allgemeinwissen als Pflichtübung der Bildungsanstalten jeden spielerischen Umgang mit Informationen verbietet, wählen Jugendliche einfach aus. Sie zappen spielerisch, suchend und fragend durch die Fundgruben des Zugänglichen. Sie gehen anders als Erwachsene mit der Erfahrung um, daß heute Wissen an der Wucherung seiner Varianten erstickt und also unvollkommen bleibt. Sie können sich mit einer ´Geschichte als Labyrinth´ weit leichter abfinden, da sie die urbanen Weiten des globalen Dorfes selbst labyrinthisch und in emotionaler Eigenstimmung erforschen. In ihrem Bedürfnis nach thrill wollen sie sich von Ereignissen überraschen lassen. Verwirrung ist ihr Wahrnehmungsprinzip.

Wahrnehmungstaktisch übertreffen sie dadurch den Bildungsauftrag ´bilde dich durch möglichst viel´, da sie querfeldein eigene Lichtungen ins Datendickicht schlagen, also individuell ihr Wissen verdichten. ´Wissen´, so trotzen Schüler, ´muß ich keineswegs alles, da ich doch alles auf Festplatte habe´. Dort suchen sie interessenabhängig - und keinesfalls nur als Videoten - nach Neuem, nach Spannendem und Erfahrungserweiterndem. Sie lernen dabei vor allem, mit Wissen umzugehen. Statt es immer weiter anzuhäufen, stellen sie seine Handhabung ins Zentrum des Interesses. Sie kommen damit der Erkenntnis entgegen, daß der Umgang mit Wissen heute schwieriger ist, als das Wissen zu erlangen, daß Informationenen über das Finden und Einordnen von Informationen wertvoller sein können als die Informationen selbst. Erst der ist souverän, der Wissen flexibel haushalten kann, der im Multiblick geübt ist und das Kombinieren verschiedener Wissensaspekte noch vor das faktische Wissen stellt. Bildung heißt dann ´bilde deine Fähigkeit, das Zuviel des verfügbaren Wissens zu organisieren´.

Der über die prothesenhaften Transmitter vermittelte ´multigeschichtete Medienraum´ bewirkt beim virtuosen Netznutzer Selbstbeobachtung und eine Erweiterung der Erfahrungsfähigkeit.[1] Die intensive Wahrnehmung ist mehr als ein ´Tanz des optischen Pluralismus´. Sie folgt vielmehr einer Struktur hinter den Strukturen: Wie es van Gogh ´nicht wichtig war, eine Hand zu zeichnen, sondern deren Bewegung´ (vgl. Werkbund Archiv 1988, 84), sieht die flüchtige, doch intensive Wahrnehmung nicht nur die Hand, die gezeigt wird, sondern auch deren Bewegung. Demzufolge ist auch eine ´Information der Schlag, nicht der Ball, der Tanz, nicht der Tänzer´ (vgl. Barlow 1995, 89). Weniger was die Bilder zeigen, ist von Interesse, sondern der transzendente Zusammenhang sowohl ihres Entstehens als auch ihrer hermeneutisch beliebig interpretierbaren Vieldimensionalität. Im Gegeneinanderprallen der Bilder und Programme wird der Betrachter zum Regisseur seiner Wahrnehmung. Zuschauen allein genügt nicht. Erst die körperliche Hingabe wird der Bilddichte gerecht. Hinter der selbstorganisierten Bildershow des Switchens, Surfens, Clippens und Klickens schimmert dann eine Ontologie des Bildes hindurch, die ohne einen flexiblen Blick unansichtig bliebe. Er korrespondiert dem urbanen Vermögen, die Hektik der Großstädte im Lustprinzip zu überleben.

Wenn ´Videogramme Phantombilder der beschleunigten Kommunikation´ sind (vgl. Preikschat 1987, 63), hat die beschleunigte Wahrnehmung den Phantomen nachzustellen. Nicht was kommuniziert wird, sondern das Wie läßt sich zwischen Bild- und Pixelüberlagerung imaginieren. Ob Multimedia, Videokunst, Videoclip oder Videospiel, die Bildmaschinen ´eröffnen einen Zugang zu den Sekundärprozessen der Kommunikation´ (vgl. ebd.). Gesten, Gerüche und die komplexen kommunikativen Redundanzen, die den Rezipienten abhanden kamen, werden in der Kommunikation mit den Bildern körperlich eingelöst. Wenn Wahrheiten als unaussprechbar klassifiziert werden können, da sie selbst den Horizont der Worte zu übersteigen vermögen, so können die Multibilder der Wahrheit näher sein, da sie vorgeben, alles zu zeigen, doch alles in der Bilddichte und in ihren Potenzialitäten verbergen. Der Betrachter nun aber hat die Freiheit, als Projekt aus dem Angebot der Wahrheitsmöglichkeiten wahrnehmungstaktisch selbstrelevante Wahrheitsmuster zu destillieren. Multimedia - ohnehin der Videokunst näher als dem Lexikon - erlaubt, aus der Aperspektivität eigene Perspektiven zu filtern und zu entwerfen.

Das Projekt - vordem Subjekt genannt - muß dabei keinesweg in der Aperspektivität verloren gehen und einen Schiffbruch der Sinne erleiden. Die Wahrnehmungsgrundlage aber ist nicht mehr der Konsens des Sinns, sondern der Dissens der wahrnehmungsabhängigen Kommunikationsstrategien. Keine reduktive, der Grammatik der Schrift oder der Sprache vergleichbare Semiotik vermag die Multiperspektiven zu entschlüsseln. Auch kommen die Bilder nicht dem Anspruch entgegen, konkrete Antworten zu geben: Sie sind Stimmung, die nur erfahrbar ist, wenn sich das komplexe Wahrnehmungsvermögen öffnet. Als Stimmung ´sagen´ sie mehr als ein meinender Satz. Vom elektronischen Austausch infiziert, kommunizieren die Individuen nicht über etwas, sie transkommunizieren vielmehr gestisch durch metasprachliche Fraktalraffungen, denen statt Worten Bildverflechtungen zugrunde liegen.

Wenn schon Cicero erkannte, ´daß junge Menschen durch sichtbare Veranschaulichungen leichter zu beeinflussen sind als durch abstrakte Argumente´ (vgl. Gombrich in: Preikschat 1987, 31), ist die Rebellion von Schülern gegen das Wissen abstrakt vermittelnde Schulsystem eine umso gesündere Reaktion ihres Immunsystems: Sie sind auf Bilder hin konditioniert, sie wollen nicht Wissen, sondern wahrnehmend erfahren. Doch Schulen sind alles andere als Sehschulen. Dem Bedürfnis der Schüler nach sinnlicher Reizanstrengung kommen sie nicht entgegen. Stattdessen wird als pathologisch abgetan, was an der Zeit ist: zu lernen, mit Bildern umzugehen. Die Jugendlichen setzen spielerisch nur um, was ihnen bereits das Fernsehen als Anlage mit auf den Weg gab. 

Das Aperspektivische, das Irrationale und Immaterielle als Lustprinzip im Bereich der Sinne zu leben, ist eine durchaus anstrengende Angelegenheit. Doch Luhmann sieht "die Funktion der Massenmedien in der ständigen Erzeugung und Bearbeitung von Irritation ... und weder in der Vermehrung von Erkenntnis noch in einer Sozialisation oder Erziehung in Richtung auf Konformität mit Normen" (1996, 174). Irritation ist das Neue, ohne das es keine Nachrichten gäbe. Multimedia steigert diese Irritation jenseits des Nachrichtenniveaus über die Grenze der Wahrnehmungsfähigkeit hinaus. Diese Grenze selbst ist die Herausforderung der Neuen Medien. Doch schon die analogen "Massenmedien steigern die Irritierbarkeit der Gesellschaft und dadurch ihre Fähigkeit, Informationen zu erarbeiten. Oder genauer: Sie steigern die Komplexität der Sinnzusammenhänge, in denen die Gesellschaft sich der Irritation durch selbstproduzierte Differenzen aussetzt" (Luhmann ebd. 149f). Die differenzbejahende Wahrnehmungsintensivierung ´entziffert´ die Bilder komplex und imaginär im imaginären Zustand ihrer selbst. Die Wahrnehmung leistet gewissermaßen Quantensprünge ins kaum Wahrnehmbare, ins Unbeschreibbare. Diese komplexe Qualität der Sinnlichkeit geht vom Konkreten hin zum Imaginären, vom Beschreibbaren hin zum Rauschen. Sie zielt auf metasprachliche Zusammenhänge, auf Redundanzen, die individuell verdichtet werden. Eine Schule des Sehens lehrt strukturelles Sehen, metaphorisches Verständnis und hermeneutische Vieldeutigkeit.

Nach und nach scheint die mediale Wahrnehmungsrealität kollektiv auf das Bewußtsein und das Handeln abzufärben: ´Kinder verlieren zwar an körperlicher Mobilität, wohingegen ihre Feinmotorik und jene kognitiven Fähigkeiten, die man benötigt, um mit den Schnittstellen zum Cyberspace zurecht zu kommen, besser ausgeprägt sind´ (vgl. Rötzer 1995, 195). Schon jeder Bericht einer ´Tagesschau´ aber zwingt zum Umgang mit mehreren Informations-, Zeit-, und Realitätsebenen. Jeder Ebene entspricht ein anderes Codierungsverfahren, ein anderes Decodierungsverhalten, jede Ebene impliziert eine andere Einstellung. ´Das Design der telematischen Information setzt neue Maßstäbe für imaginäre, räumliche und zeitliche Entfernungen. Es verwandelt räumliche Entfernungen und die zeitliche Dauer in Intensitäten´ (vgl. Preikschat 1987, 170f).

Intensität ist an Stimmung gebundene Erfahrung. Sie konfrontiert mit dem strukturellen Aufbau des Vermittelten, noch ehe der Sinn sich auftut. Eine intensive, selbstwahrnehmende Wahrnehmung tastet die Ontologie der Dinge ab, um deren Fraktalzustände in einer selbstersehenen Gesamtschau zu erspüren. Reck ortet diesbezüglich eine "kulturelle Zunahme der Reflexivität" - ´nicht als intellektuelle Reflexion, sondern als verstärkte Selbstbezüglichkeit und Selbstkontrolle´ (vgl. 1994, 86). Die Wahrnehmung und die wahrgenommenen Strukturen, denen der Sinn nur Transportgut ist, werden kontrolliert. So ist verständlich, daß "die jugendlichen Suchbewegungen sich nicht mehr auf Utopia richten, sondern ins Reich der Zeichen durchfragen. Jugendliche ... sind ... immer früher Semiotiker und Medienregisseure" (ebd.). Als solche trainieren sie die ´Differenzierung der Wahrnehmung´ (ebd.), wohingegen die Sinnstrukturen den Wahrnehmungsstrukturen untergeordnet sind.

Wie "eine Meinung, die nicht darauf besteht, im Recht zu sein, keine Meinung mehr [ist], sondern eine Erfahrung" (Walser 1990, 54), ist eine vieldeutige und vielschichtige Wahrnehmung eine konnotativ offene Erfahrung, die sich im Flackern der Bilder, im Imaginären des komplexen Selbst verdichtet, ohne sich mit dem Gezeigten zu begnügen. Die Bilder flackern zwar imaginär im ´Jenseits der Augenhöhle´, doch im Diesseits einer erfahrenden, transzendierenden Wahrnehmung. Bei der Bildeinordnung geht es, wie Preikschat sagt, ´nicht mehr um die Unterscheidungen von Ursachen, von gut und böse, sondern um die Unterscheidungen von Wirkungen´ (vgl. 1987, 152). Sie zielen auf den Zuschauer als Ganzen und appellieren nicht an die angeblich im Kopf sitzende Vernunft. Der "dramatische Kampf zwischen der Entmündigung der Vernunft und der Entmündigung durch die Vernuft" (ebd. 89f) provoziert eine Vernunft ohne Denken, eine Vernunft der Sinne.

Während beim Spielfilm-Fernsehen die Bedeutung nicht im Bild liegt, sondern in der Geschichte, die erzählt wird, ist das multimediale Bild als Bild hochgradig bedeutungsschwanger, ohne die Bedeutungen aber offen-sichtlich freigeben zu müssen. Die informatorische Großwetterlage ist nicht nur durch das Bild einzuholen, sondern auch über die potentiellen links und die Schnittlogik - gewissermaßen über die Blutspuren, die der Sinn hinterließ. Die multimedialen Bilder sind nicht als Ganze wahrnehmbar, sondern nur in Annäherung an ihre Ganzheit. Das Bedeutungsdefizit aber, das den Zuschauer an die Bilder fesselt, will durch ´ganzkörperliche Hingabe´ und durch Eigenkomplexität geschlossen werden. Der Hacker, der Videogame-Spieler, der Komputator und der Multibildrezipient nimmt mit dem ganzen Körper wahr - auch mit den Fingern, die mit der Maus rangieren. Nicht das Rezipieren ist der Sinn der Wahrnehmung, sondern komplexe Sinngebung. Das Erfahrene wird dabei nicht als Komputation an das Digital gegeben, sondern verbleibt als Bereicherung beim Wahrnehmenden selbst.

Wie aber Handeln, wenn Wahrnehmung und Reaktion geradezu traumwandlerisch werden? Die immaterielle Bilddichte und das imaginär Metasprachliche der Eigenkomplexität sind gleichermaßen diffus, da sie auf keine klaren Nenner zurückführbar sind. Darüberhinaus sind plurale Identitäten nichts Halbes und nichts Ganzes, sie sind fraktal. Sie decken sich aber mit den strukturellen ´Kleinhorizonten´ des fraktalen Wissens und der Hyperbilder. Im "Zeitalter der Individuen mit variabler Geometrie" (Baudrillard 1978, 22) werden die Variablen zum Spielball eines Individualisierungsspiels, das nicht auf Ganzheiten zielt, sondern darauf, die Identitäten als Variablen zu durchschauen. "Alle sind ausgerichtet auf ihren jeweiligen Wahn einer Identifikation mit Leitmodellen und bereitgestellten Simulationsmodellen. Alle sind austauschbar - wie diese Modelle selbst" (ebd.). Wenn dem schon so ist, und wenn denn schon ´die Maschine die Konstante und der Mensch die Variable ist´ (vgl. Flusser 1991, 32), kann die ´oberflächliche´ Beliebigkeit als eigenständige Lebensweise erst fruchtbar sein, wenn sie, gewissermaßen ironisiert,[2] als variabel und traumwandlerisch zur Geltung kommt und die Mechanismen des ´Traums´ entlarvt und akzeptiert - ohne aber den Traum zu zerstören. Handeln wird nicht vom Sinn dirigiert, sondern von den Essenzen der Stimmungslage. Handlung wird - digitalpoetisch - vom Rausch der Wahrnehmung getrieben, sie wird - fraktal-souverän - zum Affekt der Sinne und zur Entscheidung durch körperliche Anteilnahme.

Ihre einheitsstiftende Kraft haben die Bilder ohnehin längst verloren. Die Fraktalität ist anzuerkennen und im Lustprinzip wahrnehmungstaktisch zu steigern, um die Bildsinfonien überhaupt wahrnehmen zu können. Kamper fordert, ´Totalität total zu verabschieden´ (vgl. 1991, 99): "Verlassen läßt sich ... die geschlossene, fiktive, künstliche Welt nur durch einen zweiten Sündenfall, durch die Annahme einer prinzipiellen Fraktalität des menschlichen Denkens. Fraktalität heißt hier Zerstückelung der Erfahrung schon im Imaginären" (ebd. 98) - auf der Seite der ´bereitgestellten Simulationsmodelle´ und erst recht auf der der Erfahrung. Die Zerstückelung ist bewußt so weit zu steigern, bis das Denken brach liegt und sich seine Komplexität gewissermaßen als rohes Fleisch zeigt. Dann gilt: "Fraktalität des Denkens heißt Offenheit" (99). Das Denken verdichtet sich - nachgeschichtlich - aus sich selbst heraus, als blutende Wunde und ohne den Anspruch, ´Totalität´, Überblick und Wissen zurückgewinnen zu wollen: Die Vernunft, die bislang auf Sinntransfusion geeicht war, wird umprogrammiert auf Erfahrung und Selbsterzeugung. Sie entwächst dem sich selbst wahrnehmenden Kleinhorizont und übersteigt das Monolithische der Erkenntnis. 

Sinn ist dieser Wahrnehmungserfahrung und Realitätskonstruktion irrelevant. Er ist ohnehin in den digitalen Schluchten der Sinnallgegenwart verpufft: "Der Streit", so Kamper, "wird nicht nach dem Muster der exklusiven Vernuft geführt werden, nicht frontal, sondern über die Nebenwege paradoxaler Einsprüche, von denen man nicht einmal weiß, ob sie ernst gemeint sind" (1986, 46). Sich im Paradox zu halten, wird dem Wahrnehmungsgenossen zur ernsten Übung. Weder Aufklärung noch Mythos könne, so Kamper, der ´Verstümmelung des Menschen durch die Maschine´ entgegentreten (vgl. ebd. 27). Erst die Devise ´keine Angst vor der Paradoxie´ (vgl. ebd.) durchbricht die mediale Verführung, den ohnehin paradoxen Aufklärungszwang und die mythische Bildhörigkeit. Im Paradox entfaltet sich die Kraft einer Sinneskomplexität, die sowohl der Vielschichtigkeit des Wahrnehmbaren als auch der Eigenkomplexität des Wahrnehmenden gerecht wird: "Differenz-Denken ist zu üben", rät Kamper, "es verzichtet auf Einheitlichkeit, auch auf eine verkappte; es macht die Vielfalt nicht zum Prinzip, sondern weiß sie als unumgängliches Resultat jeglichen Prinzipdenkens; es ist gelassen bei Paradoxien; vor allem wird es nicht mehr vom Vorwurf des Selbstwiderspruchs angestachelt" (ebd. 44f).

Ohnehin haben Paradoxien für die gesellschaftliche Dynamik eine zentrale Funktion. Luhmann zufolge brauchen ´soziale Systeme Widersprüche für die Fortsetzung ihrer Selbstreproduktion, also für ihr Immunsystem´ (vgl. 1988, 526). Die Offenheit für das Unvereinbare ist eine Taktik, auf neue Situationen überhaupt reagieren zu können. "Paradox werden heißt: Verlust der Bestimmbarkeit, also der Anschlußfähigkeit für weitere Operationen" (ebd. 59). Der Verlust bewirkt eine Orientierungslosigkeit, die den Status Quo zunächst außer Kraft setzt, ihn dann aber unter neuen Bedingungen wieder aufbaut. Das Paradox schlägt dabei in die Kerbe des ´antiritualistischen Pendels´, das Mary Douglas zufolge in die eine Richtung ausschlagend Rituale abbaut, um dann aber, in die andere Richtung schwingend, Rituale neu verdichtet (vgl. 1981, 190). - Die Kultur ist die "Börse, an der die Optionen für Paradoxieentfaltung gehandelt werden" (Luhmann 1992, 201). Wenn jedoch ein Status Quo die Kultur zementiert und nicht genügend Widersprüche produzieren läßt, um die Kultur fortzuentwickeln beziehungsweise das Zeitgemäße zuzulassen, erweist sich das Gegebene als Handlanger der entropischen Auflösung des Kulturellen selbst. [3]

Eine Haltung, die das Unvereinbare einschließt, dagegen will nicht Lösungen, sondern Fragestellungen, die auf den ungewissen Weg des Lösens geschickt werden: Jenseits der Entropiefalle will sie sowohl die Wahrnehmung als auch das Wahrnehmbare im komplex Transzendierten. Das ´Anti´ wird dabei zur strategischen Waffe wider den programmatischen Wiederholungszwang. Luhmann zufolge gibt es "Anreize genug, das Konzept der lösbaren Probleme wieder in das der Widersprüche zurückzuverwandeln" (1988, 519). Die Mobilisierung von Widersprüchen gegen das Gegenwärtige ist grundlegend, will es zukunftsoffen sein. Sie ist gekoppelt an die in sich unvereinbare Strategie, Unwahrscheinlichkeiten auch als deren Gegenteil wahrscheinlich machen zu können: Dem Paradox ist logisch nicht beizukommen, da es unlogisch wirkt. Es blockiert die Logik, doch steigert die ohnehin nicht durchschaubare Komplextität. Paradoxie wirkt damit übervernünftig.   

Widerspruch und Paradox sprengen sowohl das perspektivische Gefängnis der Wahrheit als auch die festgelegte Strukturbanalität der Digitalvermittlung. "Der Computer", so Bateson, "stößt niemals wirklich auf eine logische Paradoxie, sondern nur auf die Simulation einer Paradoxie in Ketten von Ursache und Wirkung" (1981, 364) - eine Paradoxie im Programm würde Programmabsturz bewirken. Umsomehr entlarvt sie das Konkrete einer Komputation als Horizontverengung. Die Paradoxie läßt sich informationstechnologisch nicht einfangen, da sie selbst lebensweltlich ungelöst bleibt. Das Paradox also verschwistert sich körpernah mit dem ´Rest´, der informationstechnologisch nicht einholbar ist, es aktualisiert ihn auf der Ebene des Dissens, womit das Paradox und der ´Rest´ die Logik der technologischen Erfaßbarkeit subversiv überbieten. Erst das Unvereinbare setzt den ´Wirklichkeitsnutzer´ eins mit den Unwahrscheinlichkeiten seiner eigenen wie der lebensweltlichen Komplexität.

 



[1]Schon der  Walkman steigert die Sinneserfahrung: Der Walkman ´verwandelt das urbane Gehen in Poesie´. Man erlebt das Hören und das Gehen in einer Einheit. Durch den Walkman ´wird der Körper geöffnet´ in einen Ästhetisierungsprozeß und in eine ´Theatralisierung des Urbanen´ einbezogen (vgl. Hosokawa 1990, 244ff).

[2] Umberto Eco versteht Ironie als ´metasprachliches Spiel´, als ´Maskerade hoch zwei´, durch die ´das Spiel nicht zu verstehen, doch die Sache ernst zu nehmen ist´ (vgl. in: Kamper 1986, 45).

[3]Luhmann weiter:  "Widersprüche gelten gemeinhin als logische Fehler, als Verstöße gegen die Regeln der Logik, die zu vermeiden sind. Erkenntnisse müssen solange umformuliert werden, bis sie keine Widersprüche mehr enthalten. Die Logik ist zur Kontrolle dieses Prozesses erfunden ... worden ... Dem entspricht die Vorstellung, daß die zu erkennende Wirklichkeit als ´widerspruchsfrei´ vorausgesetzt werden müsse ... Wenn es Gegenstände gibt, die Widersprüche enthalten, werden sie ... aus dem Bereich möglicher Erkenntnisse ausgeschlossen ... Sie kommen ... nicht  vor" (1988, 489).

 

 

 

weiter mit: 3. Wahrnehmung ultra