1. Das Digital

 

Vom Mythos zum Computer war es ein weiter Weg. Er führte vom Erzählen zur Erzählung, vom Zählen zur Zahl. Mittlerweile sind Mensch und Welt gut abgezählt, vermessen, abgebildet, analysiert, kartographiert und geröngt, kurzum: erkannt. ´Wo Gegenstand war, ist Information geworden´ (vgl. Agentur Bilwet 1993, 24). Der Mensch ist dank der ihm zugänglichen Fülle an Informationen umfassend aufgeklärt und der Auftrag Aufklärung scheint weitgehend erfüllt zu sein.

Doch schon tut sich Neues auf: Aufklärung geht heute oneline. Aufklärung 2ooo ist der Auftrag, alles in einem Medium zu speichern, alles darin zu vermitteln und nichts zu vergessen. Alles bislang unterschiedlich Vermittelbare, sei es Text, Bild, Vortrag, Kunst oder Statistik, fand eine neue Basis der Vermittlung. Eine neue Sprache wurde ge-funden, das Sichtbare wie das den Sinnen nicht Sichtbare den Sinnen auf neue Weise vorzuführen. Die Sprache - der Binäre Code - besteht aus 0 und 1 und ist so einfach wie multifunktional. Auf Ja-Nein-Unterscheidungen bauend, läßt er all die digitalen ´Zauberformeln´, sprich Algorithmen, kreieren, die es erlauben, all das Gemessene und Ge-fundene und alle bislang getrennt voneinander operierenden ´Sprachen´ als Einheit zu handhaben: Die ´erfaßte´ Realität läßt sich mit Haut und Haaren in das universelle Alphabet einscannen. Sie wird festplattenkompatibel, anklickbar und käuflich.   

Das über Satelliten und Glasfaser verbreitete und über Internet, Datendienste und CD-ROMs abrufbare Wissen wuchert multibunt an Millionen Bildschirmen. Erdumspannend eine sensorisch-mediale Membran formend, gehen Mensch, Wissen und Kultur dank Satellitenübertragung buchstäblich in die Luft, beziehungsweise versinken dank Glasfaser in Grund und Boden. Die Zentrifugalkraft der Neuen Medien sprengt alle irdischen Grenzen und gewährt neue Informations- und Kommunikationsbedingungen.[1] Paul Virilio zufolge ist die ´ideale Sphäre nicht mehr die des Erdballs ist, sondern die einer virtuellen Sphäre, die anschwillt und sich in alle Richtungen aufbläht´ (vgl. 1992, 144): Das numerisch über Computer Vermittelbare hat "die alten globalen Grenzen ins unendliche Universum, ins Unendliche des Unsichtbaren erweitert" (Weibel 1989, 87). Der Mensch hat ein "unendliches immaterielles Territorium" betreten (ders. ebd. 90).

Längst hat sich die Gewißheit etabliert, daß die Welt größer und anders ist als sie im Resonanzbereich unserer Sinnesorgane erscheint. Schon "im Zeitalter der Maschinenbeschleunigung", so Peter Weibel, "wurde die Idee des Unendlichen menschlich meßbar" (1987, 54). Das neue, das digitale ´Kampfgebiet´ aber hat weder mehr territorialen Raum noch irdische Zeit, es hat den n-dimensionalen Raum der Vernetzung und Programmierung und die Eigenzeit der den Apparaten innewohnenden mathematisch festgelegten Kausalitäten. Es ist die eine Welt der internationalen, auf mathematischer Genauigkeit und globaler Interaktion fußenden Börse des Vermittelbaren: Das Digital ist die ´terrestrische Erweiterung´ des Denkens und Handelns in der virtuellen Sphäre der Rechner. Seit die Mikro- wie Makrowelten in den menschlichen Horizont dringen, seit die unendlichen Stellen hinter dem Komma und die Zahlen zwischen den Zahlen für wichtig erachtet werden, seit sich alle Bezugsgrößen hinsichtlich des ´alten Territoriums´ relativieren und das ´alte Territorium´ digitalisiert wird, ist dem Menschen nicht mehr nur der natürliche Boden ´Heimat´, sondern auch der Kosmos der digitalen world wide virtuality. 

 Unmittelbar jenseits der Tastaturen der Apparate, im ´Diesseits´ der Apparate ´beginnt´ das Digital. Vom Diesseits des Nutzers aus betrachtet sind die an den Menschen gekoppelten Apparate eine Verlängerung seiner Sinnesorgane. Das Digital freilich ist dem Nutzer nur zwischengeschaltet. "Der Bildschirm ist die Membran, die sich zwischen den Menschen und die Technik schiebt, eine Schnittstelle zwischen Maschinenprogramm und Bewußtsein" (Preikschat 1987, 65). Die technischen Prothesen sind, wie schon das Fernsehen bezüglich der sogenannten Wirklichkeit, den Sinnen vorgeschoben. Sie stehen zwischen Mensch und Welt. Mikroskope, Sensoren, Sonden und Kameras nehmen einerseits wahr, Computer nehmen Informationen ´zu sich´ und verarbeiten sie, um andererseits - qua Bildschirm - Output an die menschliche Realität zu geben: Computer sind einerseits Wahrnehmungstechnologien, die das Nichtwahrnehmbare - einschließlich des Wahrnehmbaren - aufnehmen, andererseits Informationstechnologien, die das ´neue Territorium´  den menschlichen Sinnen vorführen, es in den menschlichen Biorhythmus übersetzen. Einerseits also interpretieren die messenden Technologien die Natur auf neue Weise, andererseits vermittelt das Digital die gemessene Natur auf ebenso neue Weise. Wir können zwar weder Vitamine, Protonen und Spiralnebel aus eigener Sinneserfahrung kennen, dennoch sind sie uns so bekannt wie Nanometer, Lichtjahre und die komplizierten Vorgänge an der Börse. Digital ist alles zeigbar. Ob Zukunftsszenarien, Gehaltskonten oder Einschaltquoten, Fakten werden bildhaft hochgerechnet zu Statistik, kosmischer Staub schlägt sich als Grafik nieder und komplexe Vorgänge werden in der Simulation verständlich. [2]

 Für die Vermittlung halten die Apparate Schnittstellen: Interfaces bereit. Interfaces sind die Eingangspforten ins Immaterielle der black box, sie machen die Tasten der Computer zum Surfbrett durch die Datenfluten. Bemerkenswert an Interfaces ist, verschiedenste Realitätsebenen aneinander koppeln zu können. Interfaces sind die Vermittler des prothesenhaften Anschlusses zwischen normalerweise inkompatiblen Wahrnehmungsbereichen. Computer sind demzufolge multifunktionale Interfaces. Waren Prothesen bislang Brillen, Linsen, Beinersatz, künstliche Zähne, Silikon, Herzschrittmacher und Hörimplatate, nun entführen Wahrnehmungsadapter ins multiwahrnehmbare Spektakel. Seine optimalste Rezeptionsweise ist die der Virtuellen Realität, des ´Cyberspace´, der durch Interfaceoptimierung möglichst alle menschlichen Sinnesorgane anzusprechen trachtet.[3]

Im Virtuellen ist alles neu, alles anders. Da die ´Erfahrungswelten´ der Virtuellen Realität dank optimalen Sinnesanschlusses sinnlich überzeugen, gelten sie als real - ohne freilich ´wirklich´ sein zu müssen. Wenn durch Interfaceoptimierung des Zentralnervensystems sogar Gerüche digital vermittelt werden sollen (vgl. Brand 1990, 56), haben die Sinne eine Gleichschaltung an die Digitalvermittlung zu leisten: Sowenig den Augen hinsichtlich des realiter ´Nichtwahrnehmbaren´ zu trauen ist, bezüglich der ´Erscheinungen´ des Digitals ist den Augen und zusehends auch den Ohren und den anderen Sinnesorganen absolut zu trauen, da es die Interfaces immer besser verstehen, den Menschen als ´Gesamtkunstwerk´ anzusprechen. Die digital vermittelte Wahrnehmung überzeugt und verführt die sieben Sinne.

Das Digital ist eine Informationskultur, der einerseits die Realwelt einverleibt wird, das andererseits im Virtuellen weiterentwickelt werden kann. Mit der Digitalisierung wird alles zur Modelliermasse, zu Plastellin - jede beliebige Mitteilung, jedes Geräusch und jedes Bild läßt sich im Medium des Computers zu allem möglichen umwandeln. Nicht nur werden Töne visualisiert und Bilder hörbar gemacht, alle bislang gültigen Maße sind gesprengt. Millionen an Farbschattierungen lassen sich einem Orginal beimischen, und per Knopfduck lassen sich alle Darstellungen verfremden, verändern und verfälschen: Das Digital ist der Verantwortung nach Authentizität enthoben. Nicht einmal die Naturgesetze sind im Virtuellen verbindlich, da das Digital die Option des ´alles ist möglich´ verwirklicht. Selbst die Schwerkraft ist durch entsprechende Sinnesmanipulation in veränderter Form erlebbar.

 Die Virtuelle Realität und mit ihr das Digital kommt damit der Entdeckung eines neuen Kontinents gleich, in dem die Evolution neu geprobt werden kann und neue Welten entworfen werden können. Nach der Eroberung des neuen Territoriums steht eine ´Kolonialisierung der virtuellen Welten´ an (vgl. Schröder 1991, 127) - je ´abenteuerlicher´ die Erscheinungen, desto verkaufsträchtiger die Programme. Hans Moravec zufolge übertrifft das Digital die Vielfalt allen irdischen Lebens um ein Vielfaches: "Wir bewundern die Vielgestaltigkeit des Lebens in der irdischen Biosphäre mit ihren Tieren und Pflanzen, wo es in jeder Ritze und Spalte chemisch aktive Bakterien gibt, aber die Vielgestaltigkeit und Abstufung der postbiologischen Welt wird astronomisch größer sein" (1996, 107). Wenn die digitale Wüste erst zu leben beginnt, war wahrscheinlich ´Kolumbus der letzte Mensch gewesen, der so viel brauchbares und herrenloses Terrain vor Augen hatte´ (vgl. Barlow, 1991, 257).

Die Kolonialisierung der virtuellen Welten aber erzeugt nicht nur schöne, neue Erlebniswelten, mit ihr ist auch eine Kolonisation des Menschen selbst verbunden: Die Realitäten, die sich über Bildschirme verbreiten und ´leibhaftig´ erlebt werden, halten als künstliche Realität Einzug ins Bewußtsein. Im Digital ist dann die ´reale´ Realität - um im Windows-Jargon zu sprechen -  "nur ein Fenster mehr" - und, wie Sherry Turkle anmerkt, womöglich "nicht mein bestes Fenster" (1996, 126). Darüberhinaus wird der Körper durch die Interfaces - und sei es nur durch Bildschirme - elektronisch sensualisiert, wodurch ´die  Beschränkungen unseres Heimatkörpers überschritten´ werden (vgl. Moravec 1996, 111). Je intensiver die Apparate dem Körper auf den Leib rücken, desto mehr verwirklicht sich deren ´Wirklichkeit´ in ihm.

Hatte die Kulturkritik das Fernsehen als ´Bewußtseinsindustrie´ entlarvt, die Wirklichkeitsindustrie des Digitals überbietet das Bewußtsein durch die Tatsache, daß es nun um reine Wahrnehmung geht. Nicht das ´datenverarbeitende Denken´ wird angesprochen, sondern, weit mehr als beim Fernsehen, die Sinne selbst. Multimedia ist Video ultra. Was wahrgenommen wird, muß nicht erst entziffert werden, sondern ist als solches bereits genußfertig. Die Frage nach Wahrheit wird damit irrelevant. Wesentlich ist die Frage nach dem optimalen Interface.



[1]Weibel vergleicht den Umbruch der Weltwahrnehmung durch ein globales, einheitliches Netz mit einer Situation im Mittelalter, als Städte noch Stadtmauern und Befestigungsanlagen hatten. Als dann eine Waffentechnik entwickelt wurde, die auch eine besondere Reichweite hatte, als Kanonenkugeln über Stadtmauern fliegen konnten, seien auch soziale Organisationsformen verschwunden. "Die kampffähige Kanone hat historische Dimensionen des Territoriums obsolet gemacht und neues Terrain erobert" (vgl. 1989, 82). In Analogie dazu drohten heute Satellit und Glasfaser den Nationalstaat zu zerstören und die Normalität des sozialen Zusammenseins auf die Probe zu stellen (vgl. ebd.).

[2]Statistiken lassen sich beispielsweise als Wiese darstellen, deren wucherndes Gras und blühende Blumen verschiedene Zahlenunterschiede und Gewichtungen symbolisieren. Eine derartige Darstellung veranschaulicht komplexe Vorgänge, die in der Statistik selbst nur mühsam herauszulesen wären.

[3]Zwar präsentiert sich der ´Cyberspace´ - der Begriff ´Cyber´ entstammt dem griechischen Wort für Navigationskunst (Kybernetike) - (noch) als luxuriöser ´letzter Schrei´, doch zeichnet sich ab, daß ihm eine die Wahrnehmung revolutionierende Zukunft beschieden sein wird: Er erlaubt dem Nutzer, nicht nur wahrzunehmen, sondern sprichwörtlich im Bilde zu sein, also unmittelbar in die dreidimensionale Simulation, in ´Digitalbilder´ einzutauchen. Simulationen von allem, mathematische Formeln, genetische und molekulare Strukturen werden ´greifbar´, noch ungebaute Gebäude begehbar und ´Reisen´ in rechnerisch erstellte Geschichtsepochen möglich. Der Vorteil der Virtuellen Realität liegt in der Unmittelbarkeit der Vermittlung. Auf Körperbewegungen und Blickrichtungen des Cybernauten wird in Echtzeit reagiert, wodurch der unzweifelhafte Eindruck entsteht, das Wahrgenommene sei wahr, sei real. In der Virtuellen Realtität ist alles live. - Angesichts der Tatsache, daß die physische Welt räumliche Anwesenheit bedeutet, die Virtuelle Welt dagegen die zeitliche Nähe mit Raumkoordinaten gleichschließt, kann bereits das Telefon als eine der ersten Erfahrungen des Cyberspace gelten. Es sprengt bereits die Kategorie Anwesend / Nichtanwesend durch Universalgegenwart im Medium selbst.

 

 

 

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