I. DIE ERWEITERUNG DES KÖRPERS

 

"Die Alten hatten gut reden. Damals konnte tatsächlich alles auf der Welt in Zentimetern, Stunden, Dollar (oder den damaligen Äquivalenten dieser Maßeinheiten) gemessen werden" (Flusser 1990b, 40). Die unmittelbare Lebenswelt war in überblickbaren beziehungsweise greifbaren Größen erfahrbar: der Mensch war das Maß aller Dinge. Noch ehe aber das Maß das Weltbild prägte, war das Maßlose, das ´Unermeßliche´ weltbildrelevant. Die Welt war metaphysisch erklärt worden und das ´Maßlose´ schlechthin - Gott - konnte angebetet werden. Am Unerklärbaren entwickelten sich Wahrnehmungsrealitäten und Weltbilder. Die Dinge wurden ´magisch aufgeladen´, die Dinge selbst wurdeninformiert, indem ihnen Bedeutung zugeschrieben wurde. Sternkonstellationen, das Wetter, die Ernte etc. ließen Mythen zum Kitt der Gesellschaften werden.

Dem aufgeklärten Zeitgenossen ist eine mythische Lebensweise kaum mehr nachvollziehbar. Er betrachtet sie als ein Er-finden, denn er orientiert sich an Ge-fundenem, an Fakten, die - stets neu - zu entdecken sind. Er mißt, vermißt die Welt, klassifiziert und ordnet ein. Er ´informiert nicht die Dinge´, die ´Dinge´ sollen vielmehr umgekehrt ´den Menschen informieren´, sie sollen sein Wissen erweitern und Erkenntnis bringen. - "Wenn jemand zu uns sagt, Allah sei groß, dann müßten wir ihn fragen, wie groß er denn sei ... Wir müssen ... messen" (Flusser 1990b, 40). Und wir tun es auf die Gefahr hin, verbindliche Weltbilder, Religion und Werte ´wegzumessen´, sie wegzuerklären und zu verlieren. Da Gott nicht meßbar ist, ist er nicht wert, angebetet zu werden.

Das Messen hat sich zu einem ausgefeilten Instrument objektiver Weltabbildung entwickelt. Meßtechnologien überblicken noch das kleinste Maß der Dinge und informieren noch über den Millionen Jahre zurückliegenden Lauf der Dinge. Man weiß um Nanosekunden und Lichtjahre und um die den Sinnen unzugänglichen Bereiche der mikro- und makroskopischen Prozesse. Apparate informieren über die Gültigkeit von Naturgesetzen, sie veranschaulichen Gen- und Gehirnstrukturen, zeigen den Aufbau von Molekülen, fördern ´chaotische Fraktale´ zu Tage, kreieren künstliche Modelle und Simulationen des Realen etc., kurz: sie dringen in die Tiefe der Materie ein und erweitern unser lebensweltliches Selbstverständnis um die nicht wahrnehmbaren Dimensionen der Realität. Mit den Technologien hat der Mensch den Maßstab Mensch überholt. Sie bewirken eine prothesenhafte "Extension der menschlichen Sinne ... ins Millionenfache" (Weibel 1989, 106). Der Mensch ist nun auch im Nicht-mehr-Wahrnehmbaren ´zuhause´. Ein ´einfacher´, technologiefreier Blick kann das Nicht-Wahrnehmbare nicht wahrnehmen: Weder ist den Augen zu trauen, noch den Ohren oder den anderen Sinnesorganen. Die unmittelbar lebensweltliche Erfahrung ist so inkompetent wie die metaphysische Deutung. 

 Die ´Dinge´ informieren jedoch keineswegs nur den Menschen. In ´millionenhafter Intensivierung´ informieren sie vielmehr zunächst die Informationsverarbeitungsapparate, die die Informationen verarbeiten, um sie wahrnehmungsgerecht zu präsentieren. Die ´terra incognito´ den menschlichen Sinnen wahrnehmbar zu machen, wurden, so Flusser, "Apparate erfunden ... die für uns das Unfaßbare fassen, das Unsichtbare imaginieren, das Unbegreifliche konzipieren können" (1990, 18). Ohne die Wahrnehmungstechnologien, die das ´maßlos Immaterielle´ ins gemessen Wahrnehmbare überführen, wäre die heutige Weltwahrnehmung amputiert. Wenn denn also einst der Mythos über die Welt gestülpt und das Maßlose angebetet wurde, so werden heute Apparate, Sensoren, Satelliten und Mikrochips installiert und können der Horizonterweiterung wegen verehrt werden.

Die Apparate aber messen das Unbegreifliche und Unanschaubare nicht nur, auch simulieren sie die verborgenen Wesenheiten der Dinge und Phänomene und machen sie offen-sichtlich. Simulationen aber zeigen nicht die Realität des sinnlich Unzugänglichen selbst, sie zeigen seine Simuliertheit. Simulationen sind mit dem Selbst, das sie simulieren, nicht identisch, sie sind ihm nur ´selbstidentisch´ und damit ´selbstähnlich´. Die Simulation ist ein Zwitter aus Authentizität und Hypothese - sie ist hypoauthentisch.

Der unüberschätzbare Vorteil der Simulation liegt darin, durch unterschiedlich gesetzte Parameter verschiedene Zustände des Simulierten testen und mit unterschiedlichen ´möglichen´ Realitäten spielen zu können. Die ´Ecken und Kanten´ der sogenannten Realität werden variierbar und manipulierbar, denn der Digitalisierung wohnt die nahezu grenzenlose Freiheit inne, Informationen selbstidentisch zu erweitern und zu ändern. Nach dem Vorbild der Realität entstehen virtuell mögliche Realitäten: Hat man also einst Weltbilder ´weggemessen´, so kann heute die Welt selbst wegsimuliert und ´weginformiert´ werden, indem neue, beliebige Weltbilder simulatorisch als virtuelle Welten entstehen. Virtuelle Dinge er-findend zu informieren, scheint der neomythische Auftrag zu sein.

 

 

 

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