2. Die Krise der Schrift

 

Früher war freilich alles ganz anders: "Vor der Erfindung des Alphabets war die gesprochene Sprache ... Trägerin der ´Mythen´, also der Modelle des Erlebens, Erkennens und Verhaltens der Gesellschaft" (Flusser 1992, 62). Einerseits interpretierte das mündlich vermittelte Denken die Welt magisch, andererseits prägten die Mythen sowohl das Denken als auch die Kommunikation. Erst die Schrift entzauberte den rituellen Kosmos, sie emanzipierte das Denken und die Kommunikation von der lebensweltlichen Unmittelbarkeit und überführte den Mythos nach und nach in die Dialektik der Aufklärung. Von magischen Weltbildern befreit, sollten Informationen als Wissen zu Überblick über die weltlichen Vorgänge und über ein ´lebenslanges Lernen´ zu so etwas wie Weisheit führen. Doch so idealistisch die Vorsätze waren, die kollektiv sich verbreitende Weisheit steht immernoch aus. Obwohl Bücher Wissen und Weisheit präsentieren, konnte sowohl Wissen als auch Weisheit in ihnen ad acta gelegt und gewissermaßen entsorgt werden. 

Nicht den Glauben oder die Weisheit präferiert die Schrift, sondern den Fakt. Zwar spielen Bücher mit der Imaginationskraft des Lesers, die Schrift aber ist nie mit dem Mythos, den sie erklärt, identisch. Ebensowenig kommt eine Bildbeschreibung dem beschriebenen Bild gleich. Waren vor dem Zeitalter der Schrift Mythen bildhaft wirksam und Bilder mythisch beladen, so verbirgt die Schrift sowohl Bild als auch Mythos zwischen Buchstaben und Zeilen. Waren Bilder und Mythen einst weltbildprägend, so leistet die Schrift ein Be-Schreiben der Bilder und Mythen, ein "´Erklären´ der Bilder" in der Buchstabenlogik (vgl. Flusser 1990, 12). Die vordem unmittelbar ansichtichen Bilder und unmittelbar wirkenden Weltbilder wurden gewissermaßen in der Schrift versteckt, denn es geht ihr "um ein Übersetzen ... aus Vorstellungen in Begriffe ... aus Kontexten in Texte" (ders. 1992, 18). Schriftlich geprüfte Magie aber raubt sowohl der Magie die Lebenskraft als auch dem Bild die Einbildungskraft. Das Weltbild geriet vom Bild zur Buchstabenaneinanderreihung: "Die erste wesentliche Abstraktion heißt Schrift" (Kamper 1996b, 151). Sie sei eine ´Substitution des anwesenden Gottes´ gewesen und habe nun "verlangt, den Büchern zu glauben, statt die Körper zu berühren" (vgl. ebd.). Als ein Fraktal des Bildes scheint die Schrift verantwortlich zu sein für das Mißverhältnis der Lebensunmittelbarkeit zu seiner Aufzeichnung.

Während Magie und magiebeladene Bilder in unmittelbarer Imagination wirkten, der ´das Ganze des Sinns´ Bedingung war, ist im Buch ´das Ganze des Sinn´ über Buchstaben imaginativ erst herzustellen - und gewissermaßen nachzuplappern. Es ist zweierlei, ob man ´im Bilde´ ist und ´Bildung´ lebt oder sie sich lesend erst anzueignen hat. Das lineare Erklären bildhafter Vieldeutigkeit ist Flusser denn auch Indiz einer epochenentscheidenden Bruchstelle. Das ´textuelle Denken´ habe das ´bildliche Denken´ überholt, wodurch es schwer geworden sei, sich noch ´ein Bild von der Welt´ zu machen (vgl. 1988, 125). Während Bild und Mythos reich an Imaginationsdichte und geradezu eins mit dem Imaginären waren, führte die beschreibende Schrift zur Versachlichung und Rationalisierung des Denkens und geradewegs zur Fraktalisierung des Sinns. Die Entwicklung der Schrift scheint einen evolutionären Umweg zu markieren.

Flusser ortet eine ´Krise des bildlich Vorstellbaren´. Sie "resultiert aus dem Autonomwerden der Rationalität von der Imagination. Das ist eine der Wurzeln unserer Krise, denn eine erklärte, aber unvorstellbare Welt ist nicht befriedigend ... In dem Moment, in dem die Aussagen der Wissenschaft unvorstellbar werden, also in der Mitte des 19. Jahrhunderts, und in dem die Wissenschaftler von denen sagen, die sich unter ihren Aussagen irgendetwas bildlich vorstellen wollen, diese Aussagen nicht verstanden zu haben, also in dem Moment, in dem die Bilder vollkommen wegerklärt sind und die Aufklärung siegt, entsteht eine Krise" (1988, 125). In dem Moment also, in dem die Bilder zu Erklärungen wurden, konnten sie in ihrer ursprünglichen Dimensionalität nicht mehr bildhaft vorstellbar sein. McLuhan bedauert ein ähnliches Mißverhältnis zwischen Schrift und Rationalität: "´Rational´ bedeutet ... schon lange ´uniform, kontinuierlich, seriell´. Mit anderen Worten, wir haben Vernunft mit Schriftkundigsein, und Rationalismus mit einer einzelnen Technik verwechselt" (1968, 22).[1] Den Prozeß der Entbilderung beschreibt Flusser sehr bildhaft: "Wer Inschriften schreibt, ist ein reißender Tiger: Er zerfetzt Bilder. Inschriften sind zerfetzte, zerrissene Bildkadaver, es sind Bilder, die dem mörderischen Reißzahn des Schreibens zu Opfern wurden ... Der schreibende Reißzahn ... zerreißt unsere Vorstellungen von der Welt ... Darum ist im Grunde jede Schrift entsetzlich" (1992, 17). 

Die Entbilderung zu beheben, bedürfe es neuer Strategien. Neue Bilder braucht das Land: Computer bieten sich an, die ´wegerklärte Welt´ wieder bildhaft in Erscheinung treten zu lassen. Im Multimedialen ist der Text nur eine Darstellungsform des Bildes. Neben ´Textbildern´ sind Bilder, Bildtexte, und beliebigste Mischformen und mediale Verweise möglich - ein ´klick´ und selbst Begriffe erscheinen als Bild, das sich, den Begriff zeigend, bewegt und sogar ´von ihm´ spricht. Die Worte eines Textes werden zum Spielball einer bildlich operierenden Phantasie, die Begriffe neu kombiniert und hyperbildtextuell neue Verweisungszusammenhänge erstellt. Die Seiten eines Buches werden zum Bilderbogen und die Vormachtstellung des ´Lesens in Zeilen´ weicht der bildlich vielschichtigen Wahrnehmung. Computerbilder bilden in magischer Deutlichkeit ab, was bislang mühsam erlesen werden mußte. Nach der Sprache und der Schrift scheinen nun Computersprachen die Verantworung des ´Sagbaren´, Lesbaren und Zeigbaren zu übernehmen. Die Vorstellungskraft scheint unmittelbar in den Bildschirm einzukehren.

Angesichts der Bilderkompetenz gerät nicht nur die Schrift, sondern auch die Sprache in eine Legitimationskrise. Die redundante Vieldeutigkeit der Sprache wird übertroffen durch die exakte, gegen unendlich tendierende Verweisungslogik der Digitalbilder. Ohnehin aber, so Flusser, könne man die Welt nicht erzählen, dafür aber zählen (vgl. 1996, 173). Eine Erzählung verhält sich zur Welt wie die Metaphysik zum Kalkül. Erst das kalkulierte Messen und Zählen spiegelt die faktische Welt wieder. Zahlen und Maße nun sind überaus digitaltauglich. Zahlen sind die Grundbausteine des Digitals, sie codieren die ´gezählte´ Welt zum unmittelbar ansichtigen Bild. Simulationen zeigen unmittelbar das, was bislang nur imaginiert werden konnte. Die Zahl ist die Essenz des technischen Bildes: "In allen Apparaten ... gewinnt das Zahlendenken Oberhand über das lineare, historische Denken" des Schriftlichen (Flusser 1992b, 29).

Flusser sieht, "daß, je mehr wir auf dem Weg zur Aufklärung und logischen Erklärungen vordrangen, die Zahlen immer mehr Bedeutung gewonnen haben" (1988, 126). Wissenschaftliche Texte seien seit langem nicht mehr alphabetisch, sondern, den Weg in Richtung digitaler Codes einschlagend, ´alphanumerisch, um immer numerischer und weniger alphabetisch zu werden´ (vgl. ders. 1992, 122). Nicht Informationen, die sich in schriftlicher oder mündlicher Fraktalimagination verfransen, also werden die sogenannte Informationsgesellschaft entscheiden, sondern Zahlen, die auf Bildschirmen zu Bildern werden und die Informationen bildlich in Szene setzen. Buchverfilmungen waren erst der bescheidene und umständliche Anfang dieses Prozesses, denn die digitalen Bilder setzen nicht nur Geschichten und Geschichte in Szene, sondern auch das lebensweltliche Enviroment und die Ergebnisse der Geistesarbeit. Virtuell wird die Welt zum Bild, und die komplexe Architektur der Rechner erlaubt sogar, bildlich ´um die Ecke zu denken´.

Die Folge ist, daß "nicht nur die Literatur, sondern auch die Algebra, die symbolische Logik, kurz jede alphabetische Notation den Rechencodes Platz machen muß, denn keine solche Notation kann die Informationen übermitteln, die wir benötigen" (Flusser 1991, 236). Wir benötigen Zahlen, weil das Digital nicht anders als in Zahlen operieren kann. Will die bislang schriftlich gespeicherte Geschichte im Digital ´mitmischen´, ist sie zu digitalisieren. Wenn die "mathematisch zugängliche Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit" darstellt (Weibel 1989, 87f) - da erst sie auch das Nichtsichtbare sichtbar macht - ist absehbar, daß der "Kampf zwischen sinnlicher Wahrnehmung und mathematischer Wahrnehmung" (ebd.) zugunsten des Zahlendenkens ausfallen wird. Die gemeinsame Schnittstelle von Apparat und Mensch ist die Mathematik. Sie sprengt noch die Taktik der Schrift, da sie deren Imaginationspotentiale in aller Offen-Sichtlichkeit potenziert.[2]

Trotz aller vorgehaltener Rationallastigkeit der Schrift aber ist zu fragen, ob sie Bilder tatsächlich ´wegerklärt´? Wenn ja, dann müssen es Bilder sein, die erklärbar sind. Handelt es sich bei der Schrift um ein ´Zerfasern der Bildflächen zu Zeilen, also um ein Abstrahieren der Höhe aus den Bildflächen, ein Reduzieren der Bilder auf die Eindimensionalität der Zeile´ (vgl. Flusser 1990, 12), so ist der Vorgang ein Abtasten konkreter Bildflächen durch eine Art Rasterfahndung schriftlicher Rationalität. Doch sind Bilder, Fotografien oder gar Mythen je erklärbar und funktionalisierbar? Ob im Museum oder als Ethnologie, die Hermeneutik war stets ein hilfloses Bemühen, die bildliche und mysthische Vieldeutigkeit auf den Punkt zu bringen und sie gebührend ad acta zu legen: Sowohl Mythen als auch Bilder übersteigen eine abstrakte Erfassung. Sie lassen sich zwar beschreiben, jede Schrift aber bleibt weit hinter dem zurück, was sie beschrieb. Keine Bildbeschreibung kann den Museumsbesuch ersetzen, keine ethnologische Studie der studierten Ethnie gerecht werden.

Einerseits also versagt die Schrift zwar in ihrem Bemühen, die Welt in der Buchstabenlogik authentisch abbilden zu können, andererseits aber ist die Schrift dem Bild überaus überlegen: Sie nährt sich von Bildern, die imaginiert werden. "Dichter", so räumt Flusser ein, "sind unsere Wahrnehmungsorgane" (1992, 66). Die Schrift bedarf einer Wahrnehmung, die sich beim Leser imaginativ über Vorstellungen, Bilder und Empfindungen entfaltet. So abstrakt Texte sein mögen, die Schrift leistet bei weitem mehr als lineare Aneinanderreihungen von Erklärungen. Jeder Satz einer Schrift ist konnotativ so reichhaltig wie ein Bild, da er unterschiedlichste Bilder hervorrufen kann. Nicht einmal die Schrift ist somit erklärbar und umsoweniger ist sie ´entbildert´. Sie bewirkt nicht ein ´Wegerklären von Bildern´, sondern führt direkt zum Bild - man sieht Bilder im Text, als sei der Text gar nicht da. Nicht nur Poesie ist unbeschreibbar und übersteigt das faktisch Erklärbare und Meßbare, auch wissenschaftliche Schriften bedürfen der Imagination, um verstanden zu werden.

Die Imagination freilich liegt auf der Seite des Lesenden, nicht in der Schriftlichkeit selbst. Der Leser haucht den Buchstaben den Sinn erst ein, indem er im freien Lauf seiner Gedanken einen Bogen ins geistige Auge des Autors spannt. Die Schrift ist dabei so konnotationsreich wie das Mündliche. Ein geschriebener Satz sagt soviel ´zwischen den Zeilen´ wie ein mündlicher ´zwischen den Gesten´. Die Schrift ist so bilderreich wie Mythen und Bilder. Schreiben und Lesen sind überaus magische Akte, denn sie setzen imaginierbare Potentiale frei. Nicht also die Schrift raubt der Vorstellungskraft die Imagination, sondern der nicht auf Imagination bedachte Leser. Die Schrift ist an der Stelle festgefahren, an der ihr Reichtum konnotativ nicht mehr eingelöst wird: Die ´Krise der Schrift´ resultiert nicht aus dem Umstand, daß die Schrift Bilder erklärt - geschweige denn ´wegerklärt´ -, sondern durch den Umgang mit ihr. Genauer gesagt: nicht die Schrift verweigert ihren Bilderreichtum, sondern das fraktal infizierte Imaginationsvermögen.

Die Schrift geriet unter die Räder der Fast-food-Rezeption. Sie erzwingt ein funktionelles, reibungsloses und möglichst imaginationsbefreites Lesen. Die Schrift ´verspielt´ ihren konnotativen Reichtum und ihren poetischen Anspruch, wenn sie sich - rationallastig - durch Nachrichten-, Erklärungs- und Gebrauchsanweisungsniveau auszeichnet. Das Paradigma des unpoetischen Lesens ´beraubt´ die Schrift ihres imaginationsreichen Impetus. Auch Ratgeber müssen zwar imaginiert werden, ihr Imaginationsniveau aber gleicht eher dem eines Lottoscheins als dem eines Goethe: "Unsere Literatur ... verlangt nicht nach Bedachtsamkeit und Kontemplation. Sie ist dokumentarisch, sie will unterrichten und belehren. Nicht Weise will unsere Literatur, sie will Doktoren" (Flusser 1992, 20). Die Schrift versagt in ihrer Aufgabe, bildreich zu sein, indem sie die vordem imaginierbaren Bilder funktionalisiert, entwertet und ´unlesbar´ macht.

Es ist alles andere als erstaunlich, daß die Entbilderung in der Ära des Computers akut wird, denn vor allem im Digital wird der Bilderreichtum der Schrift zum Imaginationsproblem. Wenn die Sinninhalte der Schrift als Informationen gehandhabt und hypertextuell gehandelt werden, entbildert sich das Schriftliche durch den flexiblen Automatisierungsprozeß, es wird zerhackstückt und fraktalisiert. Wenn Hypertexte durch links in alle Welt die ihnen zugrundeliegenden Texte sprichwörtlich sprengen, sprengen sie auch die konnotative Dichte der ihnen innewohnenden, zu entzündenden Imagination. Informationen sind im Digital zu Bitpaketen verpackbare Abstrakta. Sie abstrahieren, rationalisieren und funktionalisieren nicht nur das Wissen, sondern auch Erfahrung und Bildung.

Die Schrift des Digitals entspringt der reinen, konkreten und konnotationslosen Information. Informationen haben sich der Redundanzen zu entledigen, die lebensweltlich noch ins Bad der Imagination getaucht waren. Informationen haben eindeutig, konkret und flexibel handhabbar zu sein, sie sind seitens des Digitals eine Datenansammlung ohne metaphysischen Zusatz. Derart von Sachzwängen erdrückt wird Poesie so unpoetisch wie ein Lexikon über Poesie. Die mediale Botschaft, so Pierre Lévy, ziele bei den Empfängern auf das Minimum ihres Interpretationsvermögens, sie "kann sich nicht des spezifischen Kontextes des Rezipienten bedienen. Sie negiert dessen Einzigartigkeit" (1996, 12).

 So "totalisieren die Medien alles auf dem kleinsten gemeinsamen kognitiven Nenner" (ebd.).[3] Diese Tendenz ist für Hartmut Winkler kennzeichnend für die ´Mediengeschichte überhaupt´: Medien hätten stets versucht, "auf das Problem der Arbitrarität eine technische Antwort zu finden" (vgl. 1997, 214). Die Medien stünden mit "Grauen vor der Tatsache, daß Texte grundsätzlich auslegbar sind und ihr hermeneutischer Gehalt eben nie ´manifest´" ist (ders. ebd. 50). Auch das Neue Medium, so Winkler, verspräche, dies ´Grauen zu eliminieren´ und den hermeneutischen Gehalt in eine Schrumpfform zu pressen, die ´einer Deutung nicht mehr bedarf´ (vgl. ebd.)

Zwar ist Text auch im Digital Text, dessen Bilderreichtum erlesen werden kann, sowenig das Abschreiben von Texten aber mit Lese- und Imaginationsvermögen zu tun haben muß, sowenig zieht die Textdigitalisierung die Imagination automatisch nach sich. Wahrnehmung ist noch keinesfalls Lesen. Doch der Apparatnutzer liest ohnehin weniger Texte, sondern nimmt Hypertexte wahr. Alles je zu einem Thema Gespeicherte läßt sich ´hyperlesen´: Recherche, Kombination und flexible Reaktion sind der Poesieersatz des Digitals. Der dadurch abverlangte, apparatgebundene ´Lesevorgang´ folgt der Logik der Algorithmen und links, um über die verästelten Textbilder Überblick zu erhalten. Da sich der Überblick aber stets konkret im Bild auftut, ist er der konnotationsoffenen Imagination nicht vergleichbar. Der link ist eine funktionale Imaginationssimulation. Als Verlängerung des ´Lesens zwischen den Zeilen´ wäre die ´Poesie des Digitals´ ein ´Lesen zwischen den Zahlenzeilen und Pixels´. Doch gibt es zwischen den Pixels außer der Algorithmik ihrer selbst keine konnotierbaren Sinnzusammenhänge. 

Obwohl die Apparate Wissen, Bilder und auch Poesie konkret und sogar in unendlichen Verästelungen zeigen, obwohl ´Künstliche Intelligenzen´ und ´elektronische Freunde´ bei der Wissens- und Bildaufbearbeitung zur Seite stehen, kommen deren funktionale Operationen einer Imagination nicht gleich. Die das Funktionale übertreffenden, menschlich imaginierbaren Potentiale sind den innerdigitalen Verschaltungen nicht einzugeben und folglich auch nicht ´herauslesbar´. So mag das Apparatische einerseits regelrecht eifersüchtig sein auf die menschlichen Einbildungskräfte, andererseits aber ´nützt´ eine erzählte oder imaginierte Welt im Digital nichts, denn die Erzählung entfaltet sich im imaginativen Bereich der konnotationsoffenen Ungenauigkeit. Die Imagination geistert nur durch Köpfe und würde ihrer Unberechenkeit wegen im Digital virale Störungen verursachen. Die Imagination kann nicht zum konkreten Abbild werden. Erzählungen bewirken vielschichtige Bilder im Kopf, nicht aber Bilder, die eindeutig und direkt ansichtig sind. Sie übersteigen die Faktizität, entziehen sich der ´anderen Unendlichkeit´ der digitalen Logik und haben im Digital aus Gründen der Nichterfaßbarkeit Hausverbot. [4]

Der ´Kampf zwischen sinnlicher und mathematischer Wahrnehmung´ (vgl. Weibel 1989, 87f - s.o.) scheint in der Tat entschieden zu sein, denn technische Bilder gehen auf Erfolgskurs. In der Synergie zwischen Mensch und Apparat boomt die Magie der Bilder durch unmittelbaren Sinnesanschluß. Nicht in den Köpfen entstehen sie, sie sind schon auf dem Bildschirn, noch ehe imaginiert werden muß. Das Digital als Gehirnersatz bietet Phantasie freihaus, ohne die Kraft der Imagination, die es vorgibt zu simulieren, bemühen zu müssen: Der Nutzer ist von der Mühe des Imaginierens befreit. Die Bilder bedürfen in der Echtzeitvermittlung nicht mehr der musischen Fähigkeit einer poetisch vielschichtigen Entzifferung seitens der Vorstellungskraft. Muse darf musealisieren.

Da sich die ´Transzendenz´, die ehedem der schriftlich codierten ´Heimat´ entsprang, nun als technisches Bild manifestiert, werden die Dimensionen der Imagination selbst obsolet. Die Textschwemme des Digitalen raubt den Texten die narrative Energie, und die Bildschwemme raubt den Bildern die unerklärbare Vieldeutigkeit. Hat der rationale Umgang mit der Schrift also die Bilder ´wegerklärt´ und den Text zum Fraktal des ehedem unmittelbar und magisch wirkenden Bildes werden lassen, so ist das technische Bild ein Fraktal der Imagination. Wenn deshalb schriftlich Gespeichertes und folglich ´geschichtliches Bewußtsein´ nicht mehr imaginiert wird, ist es nicht mehr unser Bewußtsein. Es liegt vielmehr hinter uns, womit den postmodernen Verlautbarungen bezüglich des ´Posthistoire´ doch recht zu geben ist.

   



[1] Doch Flusser geht noch weiter, indem er die Schrift buchstäblich beim Wort nimmt. Wenn Texte ´bildlos´ sind, vermögen auch Begriffe nicht mehr zu sagen, was sie sagen wollen: Es "kollern die Begriffe auseinander ... übrig bleiben dimensionslose Punktelemente, die weder faßbar, noch vorstellbar, noch begreifbar sind" (1990, 13). Begriffe sind weit weniger sichtbar als die Dinge, die sie bezeichnen, Begriffe also haben als Text im Gegensatz zum sprachlichen Gebrauch eine doppelte Hürde zu nehmen, imaginationsreich beladen zu werden. Zwar werden Begriffe immer auch bildhaft imaginiert, sie verließen aber durch ihre zunehmende Abstrahierung die Abbildfunktion zur äußeren Welt und ´beschreiben´ einen eigenen Kosmos, den des schriftlich Gespeicherten. Zwar ´meinen´ Begriffe auch nach wie vor klipp und klar, was sie bezeichnen sollen, der lineare Begriffsapparat aber wurde insofern autark, als im Zuge der Aufklärung eine Metawirklichkeit entstand, die jenseits der unmittelbaren Lebenswirklichkeit Relevanzen setzt: "Der Diskurs der Wissenschaft hat ein symbolisches Universum zum Gegenstand, und zwar ein Universum, das aus Symbolen besteht, deren Bedeutungsvektoren nach innen zeigen (statt auf die konkrete Lebenswelt draußen) ... Das Wissen, das uns die Wissenschaft bietet, bezieht sich nicht auf unsere Lebenswelt, sondern auf eben dieses unerlebbare Universum" (Flusser 1990b, 81f).

[2]Ob auf Scheckkarte, ob als Steuer- oder Abonnentennummer, ob in der Lotterie oder beim Einkauf, die Lebenswelt wird längst von den binären Zahlen geprägt. Jede Gurke wurde dem ´Zahlendenken´ der Computer angepaßt. Die Magie der Zahlen verspricht, im Virtuellen aus Gurken sogar Tomaten machen zu können, und  "Zahlen werden ... Töne sichtbar und Bilder hörbar machen" (Flusser 1992, 30).

[3]Auch der Berichterstattungs-Journalismus verzichtet auf den denkenden und imaginierenden Leser, indem er sich mit dem ´kleinsten gemeinsamen kognitiven Nenner´ der Aufzählungen und Aneinanderreihungen von Ereignissen begnügt.

[4]Angesichts des digitalen Imperativs, Fakten als konkretes Bild und Bilder als konkrete Fakten zu bieten, gleicht die Methode des Imaginierens der Onanie.

 

 

 

weiter mit: 3. Wissen sucht Sinn