2. Der kollektive Individualist

 

"All dies sind nur Vorahnungen", so Flusser über das Konzept der Telematie, - "und sie bergen in sich ebensoviel Gefahr wie Hoffnung" (1989, 55). Das kommunizierende Kollektiv lanciert zwischen Komputationszwang und der Freiheit des ´anything may go´. Zwischen allem, was geschieht, freilich stehen unübersehbar die Apparate. Wider die Behauptung, ´alle Computer zusammengenommen seien so komplex wie das menschliche Gehirn´ (vgl. Leckebusch 1990, 41), aber hält Flusser "die Kompetenz der Gesellschaft als Ganzes, als ein kollektives Gehirn gesehen, mit aller Wahrscheinlichkeit noch immer [für] größer als die Kompetenz aller Apparate zusammen ... Daher können zwar nicht einzelne Empfänger und Funktionäre, aber die Gesellschaft als Ganzes die Kontrolle über die Apparate übernehmen" (Flusser 1990, 66). Das ´kosmische Gespräch´ komplex agierender Nutzer behalte als Kollektivkonsens und -kontrolle Heimvorteil gegenüber den nicht-komplexen Apparatstrukturen.

Versagen die Nutzer aber in ihrer verantwortungsvollen Aufgabe der Kommunikationskompetenz, indem sie sich mit Konsumbefriedigung und virtuellen Spielen begnügen und sich in Desinteresse genügen, potenziert sich der entropische Kitsch multimedial, und der vielbeschworene User wird zum Netzschwätzer, der das kollektive Gehirn verblöden läßt. Freiheit, Demokratie und Souveränität werden durch die strukturellen Gegebenheiten der Netze nicht gratis mitgeliefert. 

Während die herkömmlichen Medien nur einweggerichtet informieren und die Bürger nicht verantwortungsvoll zu engagierter, kommunikativer Verantwortung erziehen, entziehen sich die Neuen Medien der Verantwortung gänzlich: Sie stellen nur die strukturelle Grundlage für Kommunikation und Informierung. Der Nutzer hat sich selbst um seine Informierung zu kümmern, er hat selbst Suchstrategien zu entwickeln und die Taktiken der Einflußnahme selbstverantwortlich einzuüben. Über (politische) Debatten wird er nicht mehr medial und einweggerichtet informiert, denn die neuen Medien selbst sind nun diese Debatten. Die Nutzer haben sich in ihnen einzubinden wie die Politiker heute in Entscheidungsgremien.

 Wenn also die gesellschaftliche Kommunikation über den Datenhighway läuft und abhängig von dessen Dialogstrukturen wird, besteht die einzige Möglichkeit des Handelns darin, die Netze zu nutzen und deren Inhalte auf Vordermann zu bringen. Der Umgang mit Informationen ist das einzige Handeln, das telematisch Relevanzen setzt. Handlung hat sich virtuell durchzusetzen, ehe sie auf das Irdische zurückwirkt. Der zum Nutzer emanzipierte Rezipient steht in der Pflicht, Meinungen kundzutun, Bilder zu bearbeiten und schöpferisch die Tasten zu drücken. Die Belange des Bürgers werden ans Ersatzbiotop des Digitals delegiert.

Obwohl das Informationsmonopol der herkömmlichen Medien überwunden zu sein scheint - und mit ihm die geringe Mitsprache in öffentlichen Angelegenheiten -, werden aber auch die Digitalhighways nur diejenigen Pfade für Information und Kommunikation bieten können, die sie bieten können. Es gibt im Digital keine Kommunikation, die dessen Strukturbedingungen übersteigt. Während die unterschiedlichen einweggerichteten Medien noch unterschiedliche Arten der Reaktion boten (Leserbrief, Hörertelefon etc.), bündelt das Digital alle Informierungsstrategien im einen Weg der Digitalvermittlung. Windows und Word erscheinen Hartmut Winkler insofern als Massenmedien, als sie "Millionen von Nutzern die gleiche ´Welt´ aufnötigen" (1997, 377). Und Flusser betont: "Jetzt bedeutet das Universum das Programm", denn "die Apparate ... wissen alles und können alles in einem Universum, das für dieses Wissen und die Können im vorhinein programmiert wurde" (1992b, 62).

Die Programme aber können nicht ´größer´ sein als das Universum, das ihnen als Programm eingeschrieben wurde. Die Netze sind eine geschlossene Veranstaltung. Jenseits ihrer Strukturenge wird nichts erhört werden. Zwar gibt es abertausend links, doch keinen Megalink, der durch einen Hyper-Algorithmus eine dem gesunden Menschengeist entsprechende Reflektion über die Netzstruktur erlaubt. Die Strukturen können nicht im Netz transzendiert werden. Jede Netz- und Demokratiekritik wird - ohne Angriffsfläche finden zu können - nur in der geschlossenen Netzveranstaltung zirkulieren. Kritik ist Information und wird als solche aufgenommen, eingepaßt, doch dadurch neutralisiert. Sie wird verwaltet: "Wer die Apparate abschaffen ... will, geht gegen den allgemeinen Konsensus an. Jeder Emanzipationsversuch aus der Herrschaft der Apparate ist ´antidemokratisch´" (Flusser 1990b, 98) und in den Strukturgegebenheiten eine inexistente Option. Die virtuelle Demokratie wird damit zur Fessel ihrer Freiheit, denn es gibt kein netzreflektives Darüberhinaus des Handelns. Apparatstrukturen legen die demokratischen Strukturen als unumgänglich fest. Ein netzkritischer Nutzer wird vergebens nach einem Schlupfloch aus dem strukturellen Status Quo suchen. Er wird nur endlos weiterkomputieren können. 

Im Gegensatz zur komplexen Kommunikationskompetenz des Menschen, die sich selbst reflektieren kann, ist die Digitalkommunikation als Kommunikation im Netz nicht transzendierbar. Die kommunikativen Möglichkeiten bestimmen das digitale ´Sein´. Sie mögen inhaltlich Unendliches bieten, doch brechen sie das Inhaltliche über die Einheitsbrille der Wahrnehmungsbedingungen. Die Gesamtheit der individuellen Äußerungen schrumpft zum Zwangskonsens der Verschaltbarkeit. Der individuelle Input wird den Strukturen überantwortet und das Individuelle über den Kamm des Konsenses geschoren. ´Der eigene Wille´, so merkt Kamper an, sei ´längst vom allgemeinen Willen enteignet´ (1990, 71): "Wo der Apparat sich installiert, bleibt nichts mehr übrig als zu funktionieren", ist auch der telematische Negativhorizont Flussers (1991, 35). "Wir funktionieren ... als Funktionen zahlreicher Apparate" (ders. ebd. 33), "der Mensch funktioniert in Funktionen der Apparate. Er schreibt den Apparaten vor, was ihm die Apparate vorgeschrieben haben" (ders. 1990, 64). Das so groß angelegte Projekt der Telematie aber erweist sich als Scheingefecht, wenn die kommunikativen Potentiale zu Daumenschrauben des Denkens und Handelns werden.

 Das selbstbezügliche System des Netzes verweist sogar auf eine Tendenz, die jener der ´falschen, einweggerichteten Schaltung´ in nichts nachsteht. Da es darauf ausgerichtet ist, Unwahrscheinliches wahrscheinlich zu machen, ist Kritik bereits eine ´Funktion des Programms´, noch ehe sie aktualisiert wird. Ebenso sind demokratisch eingegebene Unterschiede bereits als Möglichkeit des Programms inbegriffen. Individuell Komputiertes ist bereits vor seiner Aktivierung wahrscheinlich, da die Programme auf Unwahrscheinlichkeiten hin programmiert sind. Weshalb dann aber komputieren, wenn das Unwahrscheinliche ohnehin Aussicht auf Wahrscheinlichwerdung hat? Schon der leiseste Tastendruck tritt Lawinen lauernder Komputationen, Hochrechnungen und Statistiken, Bilder und Querverbindungen los. Der Automatismus des negentropischen Installation kippt das Unwahrscheinliche einweggerichtet auf die Festplatten.

Wenn nur das Neue zählt, aber ohnehin alles Neue möglich ist, ist das Neue zwar einerseits kaum je neu genug. Es kann andererseits aber keine Überraschungen mehr geben, wenn das Programm - auf Überraschung programmiert - nur noch Überraschungen garantiert:[1] Dialogische Kommunikation erfüllt auf paradoxe Weise nur die unendlichen Möglichkeiten der mit Komputationen zu füllenden Strukturen. Jede Information, jeder Unterschied, jede Kritik, jede Entscheidung hat Placebowirkung, wenn das Neue ohnehin Programm ist. "Für jeden Ketzer steht eine besondere Uniform zur Verfügung", so Flusser, "das Programm sieht alle möglichen Abweichung voraus und ´rekupiert´ sie automatisch. Kurz: automatischer Totalitarismus dank Feedback" (vgl. Flusser 1990b, 110) macht die ´eigenhändig menschliche´ Komputation im Grunde überflüssig. Können komputierte Revolutionen - tatsächlich klingt bereits der Begriff der Revolution veraltet - ausgeschlossen sein, weil ´jede wie Revolution sich gebärdende Bewegung im Programm enthalten ist´ (vgl. Flusser 1990b, 141), so ist die ´Revolution´ eine umso bessere Komputation. Somit ist sogar die Negentropie im Programm enthalten - eine Tatsache, die den politisch-kybernetischen Homo Ludens in die Arbeitslosigkeit schickt.

Derartige Abhängigkeiten führen die ´Henne-Ei-Frage´, ob zuerst die Programmierung und dann der Zwang zu Antwortprogrammierung und zur Komputation war, ins Absurde. Aktuelle Programmierung schlägt unmittelbar um in Hörigkeit und die Hörigkeit fordert ebenso unmittelbar die Weiterprogrammierung. Einerseits also zeigt sich das ´kybernetische Übergehirn´ als sich selbst erhaltend programmierte, steuernde Instanz, andererseits aber muß sie immer aktuell programmiert werden, um immer neu steuern zu können. Die ´Steuerung´ ist Flusser keine soziologische Erkenntnis, sondern eine kybernetische Selbstverständlichkeit: "´Programm´ heißt Vorschrift" (1990b, 118). ´Statt Konsens Programm, statt Glaube Funktion´, so lautet das telematische Paradigma (vgl. ebd. 111).

 Treffend umreißt auch Baudrillard den Mechanismus programmierter Selbstkontrolle trotz proklamierter Freiheit. Er erachtet polizeiliche und staatsschutzrechtliche Kontrolle als überflüssig, da "die gegenwärtigen Systeme durch Feed-Back und Selbststeuerung in sich selbst diese nun nutzlosen Kontrollmetasysteme integrieren. Sie sind in der Lage, das, was sie negiert, als zusätzliche Variable einzuführen. Sie sind in ihrer Operation selbst die Zensur: es bedarf keines Metasystems. Demnach hören sie nicht auf, totalitär zu sein: sie verwirklichen in gewisser Hinsicht das Ideal dessen, was man einen dezentralisierten Totalitarismus nennen könnte" (1987, 108). ´Ketzer´ wirken als negentropisch wertvolle Komputatoren. 

Die Perfektion der kommunikativen Strategien sieht Flusser vor einem "Abgrund ... denn wo alle Kriterien quantifiziert und ´objektiv´ sind, gibt es nichts mehr, worüber man sich ´metaentscheiden´ könnte" (1990, 103). Metaentscheidungen, wie sie bislang beispielsweise von politischen Instanzen getroffen wurden, werden, wenn "alle Entscheidungen in Funktion aller übrigen Entscheidungen getroffen" (ebd. 104) werden, durch die kybernetischen Verflochtenheiten Schach matt gesetzt. Die Metaentscheidung ist als ein Paradox des Programms, als Möglichkeit zwar versprochen, de facto aber verwirklicht sie sich nicht, da sie - unter Komputationshaft stehend - nur brav verwaltet werden kann. Sie wird unter Verschluß gehalten, da sie - komplex - die selbstidentische Netzlogik sprengen würde. Ihr komplexer ´Meta´-Gehalt verrät - wiederum auf paradoxe Weise - die Niedrigkomplexität des Digitals.

Während es realiter antiritualistischer Strategien bedarf, eine Tradition zu durchbrechen (vgl. Douglas 1981, 206ff), versagen derartige Mechanismen im Digital, da das ´Anti´ bereits ein Imperativ des Programms ist. Der Mythos des ewig Neuen, der mit jeder Komputation das Jüngste Gericht verspricht, baut auf einer Tradition des Neuen, des ´Anti´. Als Tradition mit umgekehrten Vorzeichen ist sie zwar einerseits auf Dauerrevolution geeicht, unter Metaentscheidungen absorbierendem Komputationszwang erfüllt sie aber andererseits nur ihren ´Programmauftrag´. Obwohl die zu erwartende Metaentscheidung ´aus der Zukunft´, aus dem Bereich der zu verwirklichenden Unwahrscheinlichkeiten kommen müßte, ist ihre Realwerdung so unwahrscheinlich wie die Wiederkunft Christi. Dennoch scheint die absurde Hoffnung zu herrschen, aller angesammelter, ´wegsimulierter´ und anstehender Sinn würde durch eine Art katalysatorischen Urknalls metatechnisch entzündet und als eine Flut der Weisheit an die Nutzer gegeben werden, um ihn metasprachlich zum Herr über die Komputationshörigkeit zu machen.

Die Unmöglichkeit, den Programmstrukturen mehr abzuverlangen, als sie vermögen, ihnen kollektiv ´Geist einzuhauchen´ und sie auf ein komplexes Niveau zu führen, zeugt von einem Mißverhältnis zwischen Mensch und Apparat: Will der Nutzer die digitalen Möglichkeiten ausschöpfen, bleibt ihm nur, sich auf deren Strukturen einzulassen und seine eigenen komplexen Fähigkeiten zu reduzieren. Die Kooperation von Mensch und Apparat verkehrt deren Verhältnis zueinander: "Im vorindustriellen Verhältnis steht die Maschine zwischen dem Menschen und der vom Menschen bearbeiteten Welt ... Im vorindustriellen Verhältnis ist der Mensch die Konstante und die Maschine die Variable". Im industriellen Verhältnis dagegen "ist der Mensch ein Attribut des Apparats ... ist gerade die Maschine die Konstante und der Mensch die Variable" (Flusser 1991, 32).

Die Ohnmacht des Nutzers und der Platzverweis für das komplex Humane ist freilich kaum spürbar, denn die Nutzer sind medienblind, solange sie Kommunikation konsumieren, Bilder komputieren, homepages herstellen und neue Programme installieren. Der Blick auf den Bildschirm ermuntert nicht zur kritischen Distanz, da er distanzlos ist. Darüberhinaus sind die Geschehnisse in der Black Box auch für Top-Programmierer kaum mehr nachvollziehbar. Einmal installiert überdauern die Programme auch ihre Schöpfer. Wenn dabei nicht mehr nachvollzogen werden kann, welche Datenmanipulation einst ausgeführt wurde, werden die Netze zum niedrigkomplexen Meta-Medium, und Gesellschaft, Kommunikation und Politik werden zum Anhängsel der installierten Logik: Der Gesellschaft, so Michael Nagula, wird der Platz des Individuums zugewiesen (vgl. 1991, 198), wohingegen das Digital die gesellschaftlich kommunikativen Relevanzen setzt. Dieses Verhältnis scheint sich nachgeschichtlich zu verstärken, denn der Nutzer gerät "in den Dienst der ihm übergeordneten Struktur" (ebd.)

 



[1]Angesichts des ´Imperativs des Neuen´ sollte man Medienmüdigkeit erwarten. Da eine ´Neuigkeitsmüdigkeit´ aber verbunden wäre mit ´Konsummüdigkeit´, ist das Neue aus rein wirtschaftlichen Gründen eine Notwendigkeit.

 

 

 

weiter mit: 3. Ideologische Programmierung