1. Multiperspektiven

 

Wenn ich sehe - im Lateinischen ´video´ genannt -, nehme ich wahr, ohne aber bereits erkennen und einordnen zu müssen, was ich sehe. Sehen ist zunächst ein Akt der reinen Wahrnehmung, der die Urteilsfähigkeit erst folgt. Ich sehe zunächst - wie ein Frosch - bar jeder Intellektualität. Ein ´reines Sehen´ aber ist menschlich kaum möglich, da jede Wahrnehmung durch Urteile und schon vorhandene ´Bilder im Kopf´ stets vorstrukturiert ist. Wahrnehmung ist das Produkt eines konstruierten Weltbildes: Erfahrung und Identität sind Vorurteile der Wahrnehmung, sie besetzen den Blick, noch ehe er sich auftut. Diese ´Unfreiheit´ freilich ist die komplexe Grundlage, überhaupt Erfahrung festigen und das Wahrgenommene verarbeiten zu können. ´Reines Sehen´ ohne Erfahrung und Konstrukte käme einer dauernden Neugeburt gleich.

Das ´reine Sehen´ aber ist andererseits ein Imperativ der technischen Bilder. Sie dialogisieren nicht mit den ´Bildern im Kopf´, sondern machen das Imaginierbare schon sichtbar, ehe es imaginiert werden muß. Die Echtzeit übertölpelt den sinnestaktischen Verarbeitungsprozeß. Die technisch vermittelten Bilder transformieren das video ins passive ´ich werde sehend gemacht´ - besser noch: ich werde besehen, beschallt und sensualisiert. Sie zielen nicht auf Erfahrung, sondern auf Reflex, nicht auf Identität, sondern auf Überraschung. Je unwahrscheinlicher und überraschender die Bilder sind, desto neugeburtlicher ihre Wirkung. Bei niedriger Erfahrungsdichte können sogar entropische Werke Überraschungseffekte erzielen. Erfahrung und Identität sind ihnen störende Vorurteile, denn sie blockieren die Reibungslosigkeit des Echtzeitblicks. Die Nullzeit der Bilder also stellt sich gegen die Eigenzeit des Betrachters. Nicht das Urteilsvermögen hat seinen Blick zu prägen, sondern die Anschlußbedingungen der Interfaces. Sie zwingen dem Nervensystem apparatinterne Rhythmen und Zeittakte auf.

Ein ´reines Sehen´ aber sollte den Neuen Bildern nicht genügen dürfen. Man sieht sie dann zwar - wie ein Frosch -, ungeklärt aber bleiben die Intentionen jenseits ihrer Offen-Sichtlichkeit. Zwar wirken die Bilder durch ihre Unmittelbarkeit wie ein Rausch, die Wirkung selbst aber ist noch keineswegs transzendiert. Der Wahrnehmung scheint der Kraftakt abverlangt zu sein, die Bilder in der Nullzeit ihrer Eigenzeit ins körperlich Imaginäre zu verdoppeln. Um sich in den Räumlichkeiten des Virtuellen zurechtzufinden und die Bilddichte einzuholen, ist die Nullzeit mit körperlicher Eigenzeit zu erobern und das reine Sehen als komplexe Wahrnehmung zu erfahren. Da das reine Sehen in einen passiven Zustand versetzt, ist das Sehen als aktiver Akt in die Bilder einzubringen: Die Beweglichkeit der komplexen Beobachtungen zurückzugewinnen, muß aus dem Zuschauer ein Beobachter werden, der auch noch sein eigenes Sehen sieht. So versteht Luhmann die Aufdringlichkeit der Bilder in fruchtbarer Korrespondenz zur Aktivierung der Eigenwahrnehmung, denn "wenn das Individuum durch Technik derart marginalisiert wird, gewinnt es die Distanz, die es möglich macht, das eigene Beobachten zu beobachten ... Individuum im modernen Sinn ist, wer sein eigenes Beobachten beobachten kann" (1992, 22). Erst eine körpernahe Wahrnehmung ist eine Wahrnehmung, die durch Selbstreflektion die Bilder reflektiert. Der Beobachter beobachtet, was die Bilder mit der Beobachtung anstellen.[1]

Doch einfacher gesagt als getan: Weltbild, Wissen und das technologische Zubehör prägen den Blick derart im voraus, daß die ´Vorurteile der Erfahrung´ die Selbstwahrnehmung einseitig gewichten und blockieren. Der reinen Wahrnehmung, die zu transdendieren ist, stehen sowohl Wissen als auch Erfahrung im Wege. Nur derjenige nimmt die Bilder in ihrer Tiefendimension wahr, der sich vom konditionierten Wahrnehmungsusus emanzipiert: der ihn ebenfalls transzendiert. Noch ehe der Blick, sich selbst im Auge behaltend, frei für die reine Bildwahrnehmung wird, hat man der vorstrukturierten Wahrnehmungsbedingungen in Selbstwahrnehmung gewahr zu werden. Die Neuen Bilder also stellen die Wahrnehmung in doppelter Hinsicht auf die Probe.

Schon das perspektivische Sehen kann zur Falle der Wahrnehmung werden. Die Perspektive ist sogar ein Paradebeispiel der Sichtverengung. Sie steht in Analogie zum Dogma sowohl der rationalen Schrift als auch der logischen Übersichtlichkeit. Die Perspektive ist weder eine gottgegebene noch eine genetisch bedingte Fähigkeit der menschlichen Sinne, vielmehr eine hart erkämpfte Errungenschaft. Richard Sennett analysiert ihre Karriere (als Modell für die Stadtplanung) Ende des 16. Jahrhunderts als Hilfe zur Orientierung: "Die perspektivische Wahrnehmung verwandelt den Gegenstand in ein Produkt der Art und Weise, wie er gesehen wird. Das menschliche Auge als Bezugspunkt verleiht der Perspektive ihren Wert; indem das Auge die Perspektive wechselt, kann es das Aussehen der Welt verändern ... dieses Spielen ... ordnet die sichtbare Welt. Die Welt kann durch die Art, wie man sie betrachtet, zu einem zusammenhängenden Gebilde gemacht werden" (1991, 201). Weibel ortet den Ursprung des perspektivischen Sehens im 15. Jahrhundert. Es sei damals ein neuer, ein ´mathematischer, rationaler und idealer Raumbegriff´ entstanden (vgl. 1990, 169). Die Perspektive habe den Raum begrenzt und eingeschlossen und - durch einen zentralen Punkt: den Fluchtpunkt - ´eine hierarchische, lineare Verhaltensweise´ erzwungen (vgl. ebd. 170ff). Der Fluchtpunkt eroberte das Zentrum konstruierter Bilder und erlaubte - entgegen der Wahrnehmung von Tieren und des reinen Sehens - Orientierung und Beobachtungssouveränität. Sennett spricht von einer "Herrschaft über den Raum. So verstanden, hat die Perspektive etwas Besitzergreifendes" (1991, 202).

Die Perspektive rationalisierte das Sehen und steigerte die Individualisierung, denn "man wird sich seiner selbst bewußt, indem man perspektivisch sieht ... die Perspektive privilegiert den Blick, nicht den Glauben" (Sennett ebd.). Das perspektivische Bild vollzog den Schritt, vordem dimensionslose, nicht perspektivische (magische) Bilder in individualisierbare Erklärungs- und Sehmuster zu setzen. Die perspektivisch geordnete Wahrnehmung konnte vom Wahrgenommenen Besitz ergreifen, es linear in wahr oder falsch einteilen, es zu Erklärungen fixieren und beispielsweise die Werke von Escher als Trug entlarven. [2]

Im ´anything may go´ der technologischen Bilder nun aber herrschen keine Klarheiten mehr, und Eschers Bilder sind ´wahr´, weil sie als ´hyperbolische Geometrie´ virtuell erlebbar sind: die Perspektive ist n-dimensional gesprengt. Sie entspricht nicht mehr den überschaubaren Realitäten. Da die Bildwelten - nun wieder magisch - als Wirkung auf die Sinne eindringen, haben sie mehr mit Glaube gemein als mit Logik. Die technologisch geforderte ´reine Wahrnehmung´ fegt damit auch Wissen und Erfahrung hinweg. Die als Wahrnehmungstaktik etablierte Perspektive wird zur Perspektivlosigkeit eines sich selbst erspürenden, selbstwahrnehmenden Betrachters, der sich bemüht, hinter den Bildern seine - ebenfalls perspektivisch offene - Komplexität einzubringen. Individualität ist dabei nicht mehr gebunden an eine selbstgewisse und definierbare Rationalität, sondern an die Erfahrungstaktik, selbstwahrnehmend Orientierung zu finden.

Weibel sieht diese Wahrnehmungsturbulenzen bereits angelegt im Perspektivischen selbst, denn obwohl der Fluchtpunkt ein Punkt auf dem Papier war, lag er, genau besehen, "außerhalb der Fläche des Gemäldes selbst und im eigentlichen Sinn sogar im Unendlichen" (1990, 170) - in der Tiefe des Bildes. "Als der im Unendlichen liegende Fluchtpunkt in den Mittelpunkt rückte, wurde auch das Problem der Unendlichkeit ... thematisch sichtbar" (ebd. 173). Für Weibel ist dies Indiz dafür, daß die "Erfindung der Perspektive ... schon ein Ende des natürlichen physikalischen Raumes angedeutet" hat (174). Die ´Implosion der Perspektive´ sei bereits vorgezeichnet gewesen (vgl. ebd.). "Insofern akzentuiert der Fluchtpunkt der Perspektive auch den Beginn einer Geometrie des Imaginären" (170). Zur ´Abschaffung der Tyrannei der Perspektive´ hätte dann spätestens der Kubismus geführt (vgl. 171). Er leitete bereits über zu den multiplen Hyperperspektiven der Technokultur. Sie überfordern jede perspektivische Sicht, da der Betrachter gezwungen ist, vieldimensional überall gleichzeitig zu sehen. Er kann sogar unlogisch um die Ecke blicken. Sowohl die Netze als auch die Bilder, die in ihnen kommunizieren, setzen die Perspektive außer Kraft. Die Perspektive ist heute mosaikartig, plural und paradox, sie bewirkt eine Flucht ohne Punkt.

War die Perspektive eine Steigerung des vordem ´haltlosen Sehens´, so bewirkt die "Enthierarchisierung des Blicks" (vgl. Werkbund-Archiv 1988, 45) einen erneuten Mutationssprung der Wahrnehmung. Erneut wird das Sehen haltlos. Es scheint sich in die prä-perspektivische Zeit des 12. Jahrhunderts zurückzuverwandeln, in der das kirchliche Zentrum der Städte in die imaginäre Tiefe führte: es führte ´transperspektivisch´ zu Gott (vgl. Sennett 1991, 28ff). - Demgegenüber führt das Sehen heute transperspektivisch in den Cyberspace.

Der Umschwung der Wahrnehmung freilich korrespondiert heute mit der Genese der Relativitäts- und der Quantentheorie, mit den Erkenntnissen der Chaosforschung, und mit den plural-fraktalen Unübersichtlichkeiten der Lebenswelt. Deren digitale Verdoppelung sprengt den perspektivischen Halt umsomehr, als wir "im Unterschied zur zentralperspektivischen Außenposition des Beobachters ... in der elektronischen Welt der Wahrnehmung selbst Teil dessen [sind], was wir betrachten" (Reiss 1995, 92). Für die lineare Logik undurchschaubar ist im Digital jeder Beobachter selbst ein (homepage-) Punkt im Universum der technischen Darstellbarkeit, ebenso jeder Unterschied, jede Information und jeder icon-gebundene Blick. Umsomehr springt der Blick zwischen körperlicher ´Unversehrtheit´ und digitaler Allround-Anwesenheit. Der Betrachter wird im Boot seiner selbst zum Navigator durchs wellenlose Weltmeer seiner vernetzten Festplatte. Das Digital ist eine Kommunikationsstruktur ohne Hierarchie, ohne Fixpunkt - mit Ausnahme der Provider, der Anbietermonopole und der Geldbeutel, in denen die Netze enden.

Da der Betrachter durch das ihm abverlangte reine Sehen in die Bildlichkeit selbst involviert wird - da er selbst ein ´Tropfen im Rauschen des Informationsmeeres´ wird -, hat er eben diese Vereinnahmung selbstwahrnehmend zu transzendieren. Obwohl die Bilder nur strukturellen Vielschichtigkeiten folgen und sich - nicht-komplex - nicht an die Imagination richten, erzwingen sie einen hyperkomplexen Blick, der sowohl die Strukturalitäten als auch das Nicht-Komplexe wie in einem Durchschuß durchschaut und gewissermaßen röntgt. In der Hierarchie, so Baecker, ´brauchte man nur die Spitze beobachten, um dann Vermutungen darüber anzustellen, wie die Ordung sich bis in die unteren Ränge fortsetzt´. In der Heterarchie dagegen habe man es mit einem "Netzwerk wesentlich höherer Ordnung zu tun, in dem Zirkularitäten möglich sind, die zu einem Verhalten führen, das nach den gängigen Erwartungen ... nur als inkonsistent und unvorhersehbar beschrieben werden kann" (vgl. 1990, 20). Das Digital fordert eine Wahrnehmung, die auf einer ´höheren´ und ´tieferen´, auf einer emergenteren Ebene mit dem Wahrnehmbaren umgeht als es bislang möglich war.

Die Orientierung versagt, solange die in die Bilddichte geflüchtete Vieldimensionalität nicht körpernah transzendiert und selbstwahrnehmend durchschaut wird. Eine an Überblick gewohnte Wahrnehmung ist bezüglich der ´Geometrien des Imaginären´ inkompetent - und blind. Deren ´zersplitterte Multischichtung´ sprengt die ´Konstanz und Kontinuität des natürlichen Wahrnehmungsraumes´ (vgl. Weibel 1989b, 72). Der Multiraum ist nicht der, den man aus der Wahrnehmung kennt, denn die Raffungen zeigen mehr als menschlich wahrnehmbar ist. Der aperspektivische (nicht mehr perspektivische) Raum hat weder mehr ein Zentrum, noch genügt ihm die Statik des gemütlichen Museumsblicks. Escher´sche Paradoxien überlagern sich in der Videokultur und den hyperlinks als Blicknormalität vielmehr fließend in Verbindungen und Schichten, in Dichte und Schnitten. Die Zirkularitäten verwirren die Wahrnehmung, sie wird selbst fraktal zersplittert und multidimensional. Dieser Emergenz hat die Wahrnehmung, sich selbst wahrnehmend, zu folgen, will sie auf der Höhe der Zeit sein. Fraktalität wird zum Wahrnehmungsprinzip, das sinnestaktisch noch überboten werden will.

Eine ´Störung von Wahrnehmungsgewohnheiten´ hat die Lebenswelt ohnehin längst erobert. Erkenntnis-, Relativitäts- und Quantentheorie haben die einst gut gehütete Kultur diffundieren lassen - alles ist relativierbar, das Wissen ist fraktal ausgehöhlt und die Identitäten ´springen im Quant´. Auch der Anspruch, eine Frage umfassend zu beantworten, ist absurd: "es gibt nur Perspektiven, die sich ablösen" (vgl. Virilio 1990, 79f). In der Moderne konnte eine Wahrheit noch mit Ausschließlichkeitsanspruch auftreten, und noch das ´Fernsehen erstrebt ein Monopol des Standpunktes´ (vgl. Preikschat 1987, 88), indem es umfassende und sachliche Runduminformierung vortäuscht. Zwar hat die ´Postmoderne´ das ´Abrücken von der Monokultur des Sinns und vom Logozentrismus´ ausgiebig zelebriert (vgl. Welsch 1991, 82), den ´im Plural Lebenden´ aber hat sie in seiner Orientierungssuche herzlos alleine gelassen. Das Gegenteil des Wahren wurde auf diffuse Weise nur persilscheintauglich.

Martin Walser klagt: "Muß einen das ... nicht mißtrauisch machen, daß man selber immer die richtige Meinung hat und die anderen immer die falsche" (1990, 54)? Ohne auf diese wohl typisch menschliche Konstitution analytisch einzugehen, ohne aber auch dem postmodernen ´anything goes´ zur Freifahrt zu verhelfen, erkennt er, "je genauer ich meine Meinung zum Ausdruck zu bringen versuche, desto genauer produziere ich beim Andersdenkenden die Widerlegung meiner Meinung ... Eine Meinung ist darauf angewiesen, recht zu haben. Sie lebt weniger von ihrem Inhalt als von ihrem Gestus" (ebd.). Der Mensch sei ein unheilbar urteilendes Wesen, stellte bereits 1927 Egon Friedell bezüglich der Schwierigkeit, Geschichte auf ihren Nenner zu bringen, fest (1976, Einltg, 6). Und Luhmann hält ´alle regulativen Ideen für Projektionen´. "Sie gelten nur so, als ob sie gelten würden, und dies, weil dies als Notlösung benötigt wird": Alle Urteile beruhten auf Kategorisierungen, also auf ´Vor-Urteilen´ (vgl. 1988, 651). Eine Meinung erzwingt ihre eigene Relativierung, sie hat mehr mit Vorurteil gemein denn mit Urteilsvermögen. Erst eine transzendierte Überhöhung hebt das Gegeneinander der Meinungen gegenseitig auf - die göttliche Sicht gibt keiner mehr recht, sondern ´denkt im Quant´.

Das Digital nun kippt das Gesamt der zur Verfügung stehenden Meinungen - beinahe göttlich - in die meinende Runde der Nutzer. Die Meinungen werden demokratisiert. Hilflos bemüht sich der mit den Mitnutzern gleichverteilte Nutzer um eine Auswahl der gleichverteilten Stellungnahmen und Informationsaspekte. Der aufmerksame Nutzer aber merkt, daß nicht die Meinung das Zentrum des kommunikativen Aktionismus ist: Die Informierung lebt nicht von ihrem Inhalt, sondern von ihrem Gestus. Sie lebt nicht vom Bild, das Inhalte vermittelt, sondern von dessen Komponiertheit und der Ästhetik der meinungsgewichteten links. Die Bilder sind Stimmung,[3] sie sind ihrerseits transzendierte und komprimierte Meinungsbündelungen und richten sich weniger an den Kopf denn an das Emotions- oder Lustzentrum. Die Effekte kommen als Reizangebote und wollen im Affekt ´verstanden´ werden. Die gestischen Stimmungen gestisch - als Stimmung - zu erfahren, erst gibt Rückschlüsse auf die meinenden Absichten, die hinter dem komputierten Gesamt des Sinnesgewitters stehen. Erst derjenige erhält Durchblick und wird erhaben über den sinnlichen Meinungskrieg, der die Stimmung der Bilder als Störung der Wahrnehmung im Selbstversuch rückkoppelt und dadurch transzendent reflektiert. Meinung und Information sind nachgeschichtlich Fußnoten ihrer Fraktalität.

Um perspektivisch fixierte Meinung ins Aperspektivische zu wenden, ist nicht der ´topologischen Nahordnung´ der Bildfraktale zu folgen. Ein Entziffern der logischen Ketten des Sinns verlängert nur die rationale und entropiebehaftete Meinungsbildung. Vielmehr ist der Bildstimmung geradezu traumatisch nachzuspüren: Eine ´Zerstreuung als eigenständige Wahrnehmungsweise´ (vgl. Welsch 1991, 60) tastet in einer Art spontanen Rasterfahndung das Gesamt des Gebotenen nach essentiellen Gestimmtheiten ab. Erst eine sprunghafte Wahrnehmung ´kippt´ noch das Monopol der eigenen, ´richtigen´ Wahrnehmungs´meinung´ wahrnehmungstaktisch.[4] Der Körper als Resonanzboden des Wahrgenommenen erfährt die Bildstimmung als emotionale Transzendenz, der keine klaren Antworten folgen, sondern gestische Reaktionen. Sie transformieren das Wahrgenommene als eigene Wahrnehmungskomputation, das Wahrnehmen selbst ist die Anwort. Dieser Taktik liegt die Erfahrung zugrunde, daß die Digitalvermittlung ohnehin Emotionen steuert und mit Informierung wenig zu tun hat.

Indem sich der Netznutzer des Meinungszwangs entledigt, öffnet er sich einer transzendenten Sicht, die in Eigenarbeit entsteht. Demgegenüber zementiert sich die auf Eindeutigkeit und Rationalität bestehende Identität zur Engstirnigkeit. Identität erscheint so gesehen geradezu asozial, da sie mit sich identisch sein will. Identität hält Kamper für eine ´kriegerische Angelegenheit, die zur Anerkennung Anderer unfähig gemacht wurde´ (vgl. 1993b, 76). In diesem Sinn wirbt Flusser denn auch für die nachgeschichtliche ´Mutation´ des Subjekts hin zum ´Projekt´: "Wir müssen aufhören, uns und die anderen erkennen zu wollen, und versuchen, die anderen anzuerkennen und uns in ihnen wiederzuerkennen. Wir müssen aus der Kapsel des Selbst auszubrechen und uns in die konkrete Intersubjektivität zu entwerfen versuchen. Wir müssen zu Projekten werden" (1990b, 179).

Der Identifikationscocktail ´Intersubjektivität´ hat freilich überaus pathologische Züge. Er ist seinerseits entropiegeplagt, da die Identitäten beliebig sind, da sie sich ihrerseits gleichverteilen und Unterschiede weder konkret zu Tage treten noch relevant werden müssen. Die Wahrnehmung verliert den perspektivisch festen Halt. Die Gefahr fraktaler Identifikationsmodellierung und diffuser Wahrnehmungsmuster korrespondiert mit einer ´Meinungsfreiheit´, in der jeder - nicht transzendierte - Standpunkt gleichermaßen begrüßt wird, damit aber Unterscheidbarkeiten verliert. Wie im Digital alle Informationen gleichwertig gelagert sind und dadurch entropisch werden, drohen auch plurale Identitäten zu entropischem Einheitsbrei zu verkümmern.

Sosehr das Fernsehen zwar das Monopol des Standpunktes zementiert, bereits das Fernsehen bietet eindeutige Perspektiven nur als ideellen Überbau, als Haltung einer diffusen Allgemeingültigkeit. Diese haltlose Haltung verweist bereits auf die ´Stimmung´, die die aperspektivischen und identitätssprengenden Bildercocktails nach sich ziehen: Das Fernsehen bietet fraktale Identitäten feil, die auf der ebenfalls fraktalen Programmstruktur aufgesäumt sind. Zwar ist Meinung einerseits stets kontret pc, andererseits aber je nach Programm und Party beliebig. Meinung will weder mehr recht haben noch identitätsübergreifende Einordnungen. Schon das Fernsehen also war Wegbereiter der Aperspektivität, denn der harte Kern des Vermittelten fällt aus, und Identität, Sinn und geschichtliche Fakten verlieren ihren Hoheitsanspruch. 

 Die Neuen Medien nun dramatisieren das Spiel mit der Rezeption. Die Aperspektivität stürzt nun multimedial auf den Betrachter ein. Sich aber noch im Status Quo der Bildungsepoche wähnend, befindet sich der Nutzer auf dem Niveau der Niedrigkomplexität und der Identitätsverengung einer allzu simplen Wahrnehmung. Er läuft Gefahr, sich orientierungslos im Aperspektivischen zu verlieren. Umso dringlicher der komplexe Kick des Blicks. Will der homo ludens optimaler Spieler sein, will er die Bildspiele in ihrer Gestimmtheit durchschauen und kompetent im Komputieren werden, hat er sich in Aperspektivität zu trainieren und die wahrnehmungstaktische Selbstbeobachtung einzulösen. Sich zwischen Bildflut, Blickdichte und Sinneinebnung vor Wahnsinn beziehungsweise vor entropischem Siechtum zu schützen, hat er die Wahrnehmung komplex zu verdichten. Wie das Zeitungslesen das kontinuierliche Lesen eines Buches und der Großstadtverkehr die Bewegung des Menschen herausforderte, fordern nun die Multimedien, fordern Zeitraffer und Zeitlupe, Mausklick, Montage und Hypertext eine neue Flexibilität der Wahrnehmung. Sie sprengt noch die aperspektivische Beliebigkeit und löst im ´harten Kern´ eines intensiven Blickes die Selbstbeobachtung als leidenschaftliche Analyse ein.

Das Komputationsspiel selbst wird dann insofern zweitrangig, als der Zwang, Bilder herzustellen, dem Drang weicht, die Komputationen im Bereich der eigenen Wahrnehmung anzugehen. Noch ehe der Künstler zum virtuellen Pinsel greift, hat er zum ´Künstler des Sehens´ zu werden. Die antreibende Motivation also ist nicht Kreativität, sondern Wahrnehmung, eine Wahrnehmung, in der die Kreativität eingelöst ist. Sie gründet in einer Intensivierung des Sehens und mündet in eine körpernahe Komplexitätssteigerung der Sinne.

 



[1] "Wir können und wir müssen uns auf den Beobachter stützen, auch dann, ja gerade dann, wenn wir die Formen und Strukturen beschreiben wollen, die wir in der Welt ´vorfinden´" (Baecker 1990, 19). Man müsse, so Heinz von Foerster, "zuerst Wahrnehmen wahrnehmen, um überhaupt von Wahrnehmung zu sprechen" (1989, 31). Die Selbstwahrnehmung fordert, die Bilder zu betrachten und gleichzeitig gewissermaßen in den Spiegel der Eigenwahrnehmung zu blicken, um zu sehen, was sie dort wie spiegeln.

[2]Die Perspektive forcierte durch die Bildlogik die Vieldimensionalität des Räumlichen: "Die Perspektive soll ... auf einer zweidimensionalen Fläche die Illusion einer dreidimensionalen räumlichen Tiefe erwecken" (Weibel 1990, 169). Dank des Fluchtpunktes konnte diese Simulation gelingen. Er konnte auch linear geordnetes ´Lesen´ und Sehen vorantreiben. Nur ein kleiner Schritt war es dann, dank der perspektivischen ´Logik´ die Bilder zu ´erklären´, sie zu ´entbildern´, also ´wegzuerklären´.

[3]Stimmung erzielende Wahrnehmung hat Ende des letzten Jahrhunderts bereits Wilhelm von Bode im damaligen Berliner Kaiser Friedrich Museum, dem heutigen Bodemuseum, praktiziert: Nicht nur Kunst stellte er aus, er konfrontierte sie mit alltäglichen Gegenständen aus der je behandelten Epoche und präsentierte dadurch einen die ´Kunst überschreitenden´ Gesamtblick - die Stimmung einer Epoche.

[4]"Jede Erfahrung, die sich zur Methode verfestigt", so Baecker, "muß sich vorhalten lassen, zu verfehlen, was zu markieren wäre. Jede Markierung, die in einem Gegenstand sich festbeißt, verfällt dem Verdacht, andere Erfahrungen auszuschließen (1990, 26). Diese Erkenntnis aber ist nur postmoderner Glaubenssatz, solange die Erfahrung nicht das perspektivische Wissenwollen überwindet und zu Selbstbeobachtung und Selbstkritik führt.

 

 

 

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