III. STRATEGIEN DES KOMPUTIERNS

 

Der Kampf wider die Entropie ist medienbedingt und wird heute am Computer ausgetragen. Hypertext, Internet, Videospiel, Simulation und die Strategien virtueller Teleaktionen sind negentropische Angebote, die ´langweilig´ werdenden medialen Wahrnehmungsgewohnheiten multimedial zu übertrumpfen. Die herkömmlichen Medien fusionieren dabei zum Computermedium und deren unterschiedliche Darstellungsformen treffen sich am Bildschirm wieder: im Bild. Das Bild feiert die Renaissance des ´Wegerklärten´, des Erklärten und des Immateriellen. Die fraktalen Trümmer, geschichtliche Zusammenhänge, multiperspektiv rezipierbare Erlebnisse sowie natürliche Vorgänge, menschliches Verhalten und biologische Vorgänge, die der Vorstellbarkeit unvorstellbar sind, werden im elektronischen Bild gleichermaßen darstellbar: ´Das digitale Bild ist die am weitesten entwickelte Form der Information´ (vgl. Virilio 1992, 25). Was das Bild zusammenhält, sind einerseits dichtgeraffte Punkte, andererseits zu Informationen zerlegte Zusammenhänge. Die durch die Vielzahl an Informationen generierten - und individuell steuerbaren - Hyper-Bilder nehmen geradezu lebendige Form an, da sie durch einen Fluß immer neuer Informationen immer neue Facetten annehmen können.

Alles scheint gleichermaßen in die digitale Logik übersetzbar und am Bildschirm darstellbar und bearbeitbar zu sein. Schon den Fortschritt des 18. und 19. Jahrhunderts führt Flusser darauf zurück, daß es "möglich geworden ist, alle Prozesse in Differenzialgleichungen auszudrücken. Alle Prozesse sind jetzt kalkulierbar" (vgl. 1988, 125f). "Nicht nur für die Physik zerfallen sie [die Phänomene] in Partikel, sondern für der Biologie ... in Gene, in der Neurophysiologie in punktartige Reize, in der Linguistik in Phoneme, in der Ethnologie in Kultureme oder in der Psychologie in Aktome" (1991b, 152). Bei den Computern nun habe sich herausgestellt, "daß das kalkulatorische Denken die Welt nicht nur in Partikel zersetzen (analysieren), sondern diese auch wieder zusammensetzen (synthetisieren) kann" (ebd. 154). Es läßt sich "das sogenannte Leben ... nicht nur in Partikel, in Gene, analysieren, sondern die Gene können dank der Gentechnologie auch wieder zu neuen Informationen zusammengesetzt werden" (ebd. 154f).

Flusser wendet sich gegen den Einspruch, daß es die "nicht automatisierbaren Verhaltensweisen sind, welche die Würde des Menschen ausmachen ... Das ist ein Irrtum. Alle Verhaltensweisen, wie auch immer, sind programmierbar und automatisierbar. Man muß sie nur in Verhaltenselemente, in Aktome zerlegen und dann wieder zurückkomputieren".  (1992, 54). Die Komputation ist der Vorgang, abstrakes Wissen aufgrund quasigenetischer Grundlagen quasiauthentisch zu simulieren und bildhaft zu komponieren. Dabei werden Mensch und Welt simulatorisch nicht einfach nur kopiert und die Dinge werden nicht nur virtuell nachgebaut, vielmehr hat der Komputator die Freiheit, beliebigste virtuelle Erscheinungen zu erzeugen. Gemäß der Alchemie des algorithmischen ´Mandelbroteinmaleins´ entstehen nicht nur Simulationen und ´rückbebilderte´ Bilder und Bildwelten, sondern auch negentropisch beliebig mutierte neue Formen.

An der Informationsfront werden die Fraktalität des Denkens, des Verhaltens und Wissens algorithmisch zur multirezeptiven Synthese aufbearbeitet. Nicht zum Abbild, sondern zum Neubild führt die Komputation. "Von der ursprünglich ´ausgedehnten Sache´ ist keine Rede mehr, sondern von nach Feldern strukturierten Teilchenschwärmen" (Flusser 1991b, 152). Im Rauschen des Bildschirms nehmen ´Teilchenschwärme´ - Pixels - Gestalt an: "Die technischen Bilder sind Ausdruck des Versuchs, die Punktelemente um uns herum und in unserem Bewußtsein auf Oberflächen [des Bildschirms] zu raffen, um die zwischen ihnen klaffenden Intervalle zu stopfen; des Versuchs, Elemente wie Photonen oder Elektronen einerseits und Informationsbits andererseits in Bilder zu setzen". Es gehe darum, die Teilchenschwärme, "die Punktelemente zu raffen, um sie wieder konkret (begreiflich, vorstellbar, behandelbar) zu machen" (ders. 1990, 17). ´Raffen´ ist die Verbildlichung von Phänomenen in extrem hoher und dichter Auflösungskapazität. Elemente und Begriffe zu verbinden, also die fraktalen Stadien der Begriffe und Sachverhalte zu hypertextualisieren, führt zur Gesamtschau all ihrer Aspekte. Mathematisch geraffte Bilder leisten nicht nur eine perfekte Bildauflösung - vor allem werden die ´unvorstellbar gewordenen Bilder´, die zu dimensionslosen, begrifflichen Punkten ´auseinandergekollert´ waren (vgl. ebd.), auf neue Weise sichtbar.

Erst die Sichtbarkeit scheint die Dinge in ihrer Existenz zu legitimieren. Die Verbildlichung durch die Neuen Medien geht davon aus, daß "Technik ... in der Lage sein wird, die Punktelemente ebenso dicht zu streuen, wie dies bei den Dingen der uns gegebenen Welt der Fall ist" (Flusser 1991b, 147). Das Hologramm rafft die Objekte extrem dicht, und die Virtuelle Realität ist die konsequenteste Form einer Raffung, denn sie besteht ´aus Punktelementen komputierten, eingebildeten Flächen´ (vgl. 1990, 31), die auch das Dreidimensionale des Hologramms bewältigen. Punkte und Intervalle sind realitätsecht simuliert und treten lebensecht in Erscheinung.

Geraffte Bilder boomen. Sie scheinen sogar dem Denken auf die Spur zu kommen, denn als Hypertext und -bild simulieren sie weitverästelte, sich überlagernde Sinnfraktale. Sie zeigen unmittelbar das, was die Vorstellungskraft bislang imaginierte: Die "im Gehirn ... komputierten Bilder nennt man Vorstellungen. Die Apparate simulieren diese Gehirnfunktion. Was wir auf ihren Schirmen sehen, sind simulierte Vorstellungen" (Flusser 1992, 128f). Zwar sind sie, wie Flusser einräumt, eine "Karikatur des Denkens" (ebd. 129) - da komplexe Vorstellungen nicht einholbar sind -, doch einerseits genügen die simulierten Varianten der strukturellen Ebene des Digitals, andererseits überbieten sie die Fraktalzustände durch die hyperdichte Gesamtschau.

Man mag einwenden, die auseinandergekollerten Punktelemente zusammenzusetzen, bedürfe es keiner Computer, sondern so etwas wie der menschlichen Einbildungskraft. Doch wie Wim Wenders in ´Bis ans Ende der Welt´ zeigt, soll die Einbildungskraft gerade auf der immateriellen Ebene der Computer Einzug halten. Ohnehin verwalten Computer das Immaterielle, wozu dem Menschen die Organe fehlen. Erst gekoppelt an elektronisch imaginierende Freunde, scheint die redundante, rein menschliche Imagination, einbildende Potentiale freizusetzen, von der die Vorstellungskraft bislang nur träumen konnte.

Angesichts der menschlichen Komplexität ist es zwar zweifelhaft, daß alle menschlichen Verhaltensweisen ´zerlegt´ werden können, doch jede neu gelungene Zerlegung und jede Komputation bedeutet einen Fortschritt weiterer Programmkalkulierbarkeit und weiterer Komputationsmöglichkeiten. Was dann dennoch nicht ins Programm ´paßt´ oder keinen Platz findet, existiert freilich auch als Komputationsgrundlage nicht. All das menschlich gar nicht Wahrnehmbare, das Immaterielle, dagegen ist kalkulierbar, noch ehe es menschlich imaginiert werden kann. Das durch die mathematisch operiererenden, messenden, zählenden und programmierenden Prothesen zutage geförderte Wissen mag - im Universum der Informationen - sogar informativer sein als die ´menschlichen Regungen´ oder die wie auch immer kalkulierbare menschliche Würde. Umso mehr ist der Mensch auf Wahrnehmungsprothesen angewiesen.

Die technischen Bilder platzen geradezu vor Informationen. Als Pixelansammlung oder Hypertext sind sie weit dichter an Information als gemalte Bilder oder als irdisch Sichtbares, denn sie entstehen punktuell durch reine Information. Mit dem Digital umzugehen genügen denn auch weder lineare Erklärungen noch die menschlichen Sinne. Die Apparate verwirklichen gewissermaßen die Relativitätstheorie, indem sie einen Sprung zwischen Raum und Zeit, zwischen Darstellungsdichte und Wahrnehmbarkeit provozieren. Ihre ´Logik´ sprengt die des Sinnesvermögens. 

Die Bilder aber werden nicht nur angeklickt und angesehen, in der Regel werden sie zunächst über den Datenhighway gejagt. Als solche werden Bilder zur Grundlage der Kommunikation. Sie unterminieren die Funktion von Schrift und Sprache. "Für das Zusehen", so Flusser, "sind Schriften nicht die geeigneten Codes. Bilder sind dafür besser geeignet" (1992, 23). Schrift und Sprache können die Informationsdichte der Bilder nicht fassen. Sie werden der Darstellungsdichte des Digitals nicht gerecht. Das Bild dagegen ist die ´dritte Dimension des Textes´ (vgl. Preikschat 1987, 45). Flusser nennt den Prozeß der Re-Visualisierung des Wissens und der unvorstellen Abstrakta eine "Abstraktionen dritten Grades ... Die technischen Bilder ... abstrahieren aus Texten, die aus traditionellen Bildern abstrahieren, welche ihrerseits aus der konkreten Welt abstrahieren" (Flusser 1992b, 13). Erst die technischen Bilder würden wieder mit der Welt identisch, indem sie sie auf der quasimolekularen Ebene der Partikel - der Pixels und Bits - erstellen. "Wir sind eben daran", so Flusser, "uns auf Bildermachen und Bilderbetrachten zu konzentrieren. Wir sind eben daran, ins ´Universum der technischen Bilder´ zu übersiedeln" (vgl. 1992, 23).

 

 

 

 

weiter mit: 1. Der Imperativ des Sinns